In einem Witz, den man sich in Russland erzählt, wird eine gewisse Berta Isaakijewna gefragt, ob sie Jüdin sei. »Wie kommen Sie darauf?«, fragt die Angesprochene zurück. »Wie wohl, Isaakijewna ist doch ein jüdischer Vatersname.« Berta Isaakijewnas Reaktion ist schlagfertig: »Dann ist die Isaakskathedrale wohl eine Synagoge.«
Die Isaakskathedrale ist die größte Kirche St. Petersburgs. Einen ernsten Hintergrund hat der Witz dennoch: Im Vielvölkerstaat Russland verraten Vor-, Vaters- oder Familiennamen oft den ethnischen Hintergrund einer bestimmten Person. Im allgemeinen Bewusstsein gibt es zahlreiche Namen, die traditionell als jüdisch wahrgenommen werden.
Nicht nur biblische Namen wie Isaak zählen hierzu. Auch der Name Boris etwa werde von Juden gerne gewählt, lässt sich einer offen antisemitischen russischen Webseite entnehmen, deren erklärtes Ziel darin besteht, Anhaltspunkte zur Identifizierung von Juden zu liefern.
Beileidstelegramm Nur vor dem Hintergrund einer derartigen Sensibilität für vom Namen tatsächlich oder vermeintlich mittransportierte Informationen lässt sich eine Diskussion verstehen, die sich nach dem Tod des Oppositionspolitikers Boris Nemzow entzündete.
Auf den Mord in Sichtweise des Kremls reagierte Staatspräsident Wladimir Putin mit einem Beileidstelegramm an die Mutter des 55-Jährigen. Putin richtete ihr darin sein »tiefes Mitgefühl angesichts des unersetzbaren Verlustes« aus. Adressiert war das Telegramm an Dina Jakowlewna Eidmann. Allein: Nemzows 1928 geborene Mutter hatte ihren Mädchennamen bereits 1952 abgelegt. Von ihrem Ehemann trennte sie sich später, den Nachnamen Nemzowa führte sie weiterhin.
Ein schlichtes Versehen des Kreml? Oder war der für jeden Russen verständliche Hinweis auf die mütterlicherseits jüdische Abstammung Nemzows, der sich selbst als orthodoxen Christen bezeichnete, ein »Fußtritt nach dem Tod«? Als Letzteres bezeichnete das Telegramm auf seiner Facebook-Seite der als Putin-Kritiker bekannte deutsche Journalist Boris Reitschuster.
Stalin Dina Nemzowa zumindest hat das Telegramm nach dem Tod ihres Sohnes noch weiter aus der Fassung gebracht, wenn man dem Facebook-Eintrag des mit der Familie befreundeten Geschäftsmanns und ehemaligen russischen Vizepremiers Alfred Koch glauben darf. Der Schreck wäre auch biografisch erklärbar: Nemzowas Heirat und das Ablegen ihres Mädchennamens fällt in die Zeit einer umfassenden antisemitischen Kampagne, die in der Sowjetunion unter Josef Stalin als sogenannter Kampf gegen die »wurzellosen Kosmopoliten« geführt wurde.
Als Antisemit wird Wladimir Putin allerdings auch von seinen schärfsten Kritikern selten bezeichnet. Im Gegenteil: Putin, der nach außen als Machtpolitiker und Wahrer russischer Interessen auftritt, hält innenpolitisch stets Abstand zu radikal-nationalistischen Kräften. Vielen gilt er gar als Freund und Unterstützer der jüdischen Gemeinde. Doch in Russland, so lässt sich der Widerspruch vielleicht am ehesten auflösen, muss kein überzeugter Antisemit sein, wer sich hin und wieder antisemitischer Stilmittel in seiner Rede bedient, wenn es gerade opportun scheint.
Ein Beispiel hierfür lieferte Ende der 90er-Jahre der mit Nemzow auf Kriegsfuß stehende jüdische Oligarch Boris Beresowski. Der amerikanische Journalist Mark Ames erinnerte in seinem Nachruf auf Nemzow daran, wie Beresowski damals die Präsidentschaftsambitionen Nemzows verhöhnte: »Es scheint mir, als hätte Nemzow ein rein genetisches Problem: Er ist ein Boris Jefimowitsch, manchmal ist er ein Boris Abramowitsch. Aber er möchte ein Boris Nikolajewitsch sein.«
Abramowitsch war Beresowskis (eindeutig jüdischer) Vatersname, Nikolajewitsch der russische Vatersname des amtierenden Präsidenten Jelzin. Dessen Nachfolger könne Boris Jefimowitsch Nemzow angesichts seiner jüdischen Herkunft unter russischen Verhältnissen nie werden, so Beresowski: »Zum Präsidenten wird man nicht, als Präsident wird man geboren.«