Polen

Renaissance oder Scheinblüte?

Verschmitzt grinsende Holz-Jüdlein, die einen Groschen in der Hand hin und her drehen, stehen inzwischen fast in jedem polnischen Wohnzimmer.

Auch die »Wackeljuden« im schwarzen Kaftan und mit Schläfenlocken erfreuen sich großer Beliebtheit. Man stupst sie leicht an, und schon wippen sie charakteristisch vor und zurück. Angeblich bringen die Holzjuden Glück.

Es gibt sie auch aus Papier – und mit Gebrauchsanweisung. Wochentags muss das wie ein Heiligenbildchen wirkende »Ein Jude zählt das Geld« aufrecht am Türeingang hängen. Am Schabbat hingegen dreht der Christ das Bild auf den Kopf, sodass die gesammelten Groschen aus der Schatulle in die eigene Kasse fallen können. So soll das Geld im Hause nie ausgehen.

Kulturfestivals Als die »Renaissance des Judentums« vor rund 20 Jahren in Polen begann, waren es zunächst die jüdischen Kulturfestivals, die mehr und mehr Juden und Christen in ihren Bann zogen. Die eingeladenen Gäste – Musiker, Historiker, Zeitzeugen, Psychologen, Schriftsteller, Rabbiner und Künstler – waren von Anfang an Juden aus Polen und aller Welt. Die meist nichtjüdischen Organisatoren, die mit viel Begeisterung, aber ohne großes Wissen starteten, bezahlten im Lauf der Jahre viel Lehrgeld.

So gilt das 1988 zum ersten Mal veranstaltete Festival der Jüdischen Kultur in Krakau inzwischen als das größte jüdische Kulturfestival weltweit. Einmal im Jahr verwandelt sich Kazimierz, das einzige vollkommen unzerstörte jüdische Stadtviertel Polens, in ein Schtetl der Superlative: Straßentheater, Dichterlesungen, Workshops, Tanzkurse, Diskussionen, Konzerte und eine große Schabbat-Feier. Zur größten jüdischen Partymeile »Kazimierz tanzt!« reisen viele Gäste eigens aus dem Ausland an.

Konkurrenz Nach anfänglicher Skepsis unterstützt die kleine Krakauer jüdisch-orthodoxe Gemeinde inzwischen das jährliche Festival – ebenso wie die Reformgemeinde Beit Krakow sowie das Jüdische Kultur- und Gemeindezentrum JCC vom American Joint Distribution Committee. Längst haben andere Städte nachgezogen, insbesondere Warschau mit dem alljährlichen Isaac-Bashevis-Singer-Festival. Organisator ist die Stiftung Shalom, die auch die Jüdische Volkshochschule, Schülerwettbewerbe, Jiddisch-Sprachkurse, Literaturlesungen und Fotoausstellungen zur Geschichte des jüdischen Lebens in Polen fördert.

Auch in Breslau, Lodz, Allenstein, Lubin und vielen anderen Städten gibt es jüdische Festivals. Hinter vorgehaltener Hand tuschelt der ein oder andere schon mal, dass es im heutigen Polen mehr jüdische Festivals gebe als polnische Juden.

Ganz so dramatisch ist es zwar nicht. Doch hat sich in den vergangenen Jahren die Hoffnung zerschlagen, dass mit der Zeit all die versteckten Juden »aus dem Schrank« kommen und sich den sieben jüdischen Gemeinden anschließen.

vOLKSZÄHLUNG
Zwar stieg die Zahl der Juden in Polen von der Volkszählung im Jahre 2002, als sich gerade mal 1100 Menschen zum Judentum bekannten, auf knapp 8000 Juden bei der Volkszählung 2011 an.

Doch die Zahl ist weit entfernt von jenen »30.000 bis 100.0000 Juden«, auf die einst Polens orthodoxer Oberrabbiner Michael Schudrich gehofft hatte. Insgesamt liegt die Bevölkerungszahl Polens bei 38 Millionen. Rund 95 Prozent von ihnen bekennen sich zum katholischen Glauben. Vor dem Zweiten Weltkrieg machten die Juden mit rund 3,5 Millionen rund zehn Prozent der Gesamtbevölkerung Polens aus.

Anna Chipczynska, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Warschau, kennt die aktuellen Zahlen für jede Gemeinde. »Insgesamt sind in allen jüdischen Gemeinden und Gemeindefilialen zur Zeit 1740 Mitglieder eingetragen«, berichtet sie.

Die Festivals, Denkmäler, Klezmerkonzerte, Lesungen und Jiddisch-Kurse – sie bringen die einst in Polen lebenden Juden nicht zurück. Zwar entdecken jedes Jahr einige junge Polen und Polinnen ihre jüdischen Wurzeln, beginnen sich für die Geschichte ihrer Familie zu interessieren und schließen sich am Ende einer der jüdischen Gemeinden oder einem jüdischen Kulturverein an.

»Neu-Juden« Doch die Gesamtzahl der Juden in Polen wird wohl auch trotz der rund 20 polnischen Christen, die jedes Jahr zum Judentum übertreten, in den nächsten Jahren kaum signifikant steigen. Dies liegt daran, dass viele der sogenannten »Neu-Juden«, wie in Polen diejenigen genannt werden, die ihr Judentum erstmals für sich entdecken, irgendwann doch Alija machen und nach Israel emigrieren.

Viele der orthodox konvertierten Juden, die ihren neuen Glauben auch gern äußerlich manifestieren möchten, kommen später im polnischen Alltag nicht mehr klar und verlassen ebenfalls das Land. Die jüdische Gemeinde in Polen ist ihnen zu klein, die Angst vor antisemitischen Beleidigungen wie »Jude ins Gas« oder Davidstern-am-Galgen-Graffiti am Auto oder dem Hauseingang zu groß. Da helfen auch jährliche Aktionen wie »Übermalen wir das Böse«, bei denen die schlimmsten Schmierereien an den Hauswänden übermalt werden, nicht viel.

Zu den offiziell in den jüdischen Gemeinden registrierten 1740 Mitgliedern zählen auch die »Vaterjuden«. Zwar ist es eigentlich die jüdische Mutter, die laut der Halacha, dem jüdischen religiösen Gesetz, das Judentum an die nächste Generation weitergibt, doch gilt in Polen nach der Schoa eine Ausnahme.

Hier sind so viele Juden ermordet worden und in den Nachkriegsjahren in die USA, nach Schweden und Israel emigriert, dass auch »Vaterjuden« ganz offiziell Mitglied in einer polnisch-jüdischen Gemeinde werden können. Der einzige Unterschied zu den anderen Gemeindemitgliedern: Im orthodoxen Gottesdienst werden sie nicht zur Tora aufgerufen.

Einheitsgemeinde Doch seit einigen Jahren muss niemand mehr in der orthodoxen Synagoge bleiben, wenn er zwar religiös, aber nicht unbedingt orthodox ist. Das an Deutschland orientierte System der Einheitsgemeinde vereinigt verschiedene Glaubensrichtungen unter einem Dach.

So funktioniert in Polens Hauptstadt Warschau die orthodoxe »gmina«, die die Nozyk-Synagoge an der Twarda-Straße nutzt, und die Reformgemeinde Ec Chaim, deren Mitglieder in einer eigenen Synagoge in der Jerusalemer Allee zusammenkommen. Mit rund 660 Mitgliedern stellen die Warschauer die größte jüdische Gemeinde in ganz Polen dar.

Drei weitere Betergemeinschaften in Warschau sprechen in erster Linie Ausländer an und können daher nicht Teil der Einheitsgemeinde werden. Dies ist zum einen die Gruppierung Chabad Lubawitsch, die vor allem Ansprechpartner für die immer zahlreicher werdenden israelischen Touristen in Polen ist.

Außerdem gibt es die orthodoxen Juden aus Georgien, die in Polen arbeiten und sich zunächst der Gemeinde in der Twarda-Straße anschließen wollten, es dann aber – aufgrund einer anderen Liturgie – doch vorzogen, eine eigene Synagoge zu gründen.

Und schließlich ist da die progressiv ausgerichtete Gemeinschaft »Beit Warszawa«, der sich viele Amerikaner und andere englischsprachige Ausländer angeschlossen haben. Auch in anderen Städten Polens versuchen liberale Juden, eine Reformgemeinde zu gründen, zugleich aber unter dem Dach der Einheitsgemeinde zu bleiben.

»Es gibt die vielbeschworene Renaissance des Judentums in Polen tatsächlich«, sagt Piotr Pazinski, Chefredakteur der jüdischen Kulturzeitschrift Midrasz, »doch darf man dabei nicht vergessen, dass es auch vor 1989 jüdisches Leben in Polen gab. Jeder, der ein jüdisches Leben leben wollte, konnte dies auch tun.«

Nach dem Zweiten Weltkrieg siedelten sich die über 200.000 polnischen Juden, die den Krieg in der Sowjetunion überlebt hatten, in den ehemaligen deutschen Ostgebieten an, vor allem in Niederschlesien. Dort entstanden zunächst auch zahlreiche neue jüdische Organisationen, Schulen, Theater und Sportvereine.

Massenemigration Doch die Nachkriegspogrome in Kielce, Krakau, Rzeszow und anderen Städten sowie die antijüdische Politik des kommunistischen Regimes in Polen führten zu einer Massenemigration der Holocaust-Überlebenden. Die wenigen Juden, die blieben, organisierten sich ab 1950 in der Sozial-Kulturellen Gesellschaft der Juden (TSKU). Bis heute ist die TSKZ mit landesweit 16 Clubs die größte jüdische Organisation in Polen.

»Seit der Wende 1989 hat sich viel verändert«, so Pazinski. »Das jüdische Leben in Polen ist aufregender geworden, vielseitiger und spannender.«

Zeitungen So konnte die Zeitschrift Midrasz erst nach 1989 entstehen, weil es zuvor die Zensur gab. Vor 1989 erschienen lediglich »Dos Jiddische Wort« auf Polnisch und Jiddisch sowie das wissenschaftlich ausgerichtete »Jüdische Bulletin«.

Inzwischen sind etliche jüdische Zeitschriften hinzugekommen. Zudem entsteht in Polen eine neue jüdische Kunst und Literatur. Die dritte und vierte Generation meldet sich zu Wort. Pazinski selbst ist einer jener polnisch-jüdischen Schriftsteller. Demnächst erscheint sein drittes Buch. Der biografisch inspirierte Roman Die Pension ist bereits auf Deutsch erschienen.

»Boker Tov« (hebräisch für Guten Morgen) lockt jeden Sonntag von 11 bis 15 Uhr mit einem koscheren Brunch zum ausgedehnten Frühstücken. Die Atmosphäre im kleinen Haus an der Chmielna-Straße 9 A ist locker, ausgelassen und fröhlich. Familien kommen gerne hier her. Die Kleinen können in einem Nebenraum spielen und malen.

Für viele Juden in Warschau ist die Synagoge kein zentraler Ort, um ihr Jüdischsein zu leben. Schabbat feiern viele zu Hause am Familientisch oder auch gar nicht. Ähnlich wie auch in Krakau bietet das Jüdische Kultur- und Gemeindezentrum JCC, das vom American Joint Distribution Committee finanziert wird, eine Alternative. Zum »Boker Tov« kommen alle gerne – Orthodoxe, Progressive, Chassiden und Nichtreligiöse. Auch die Rabbiner schauen hier gerne vorbei.

vorreiterinnen Zwei Frauen – Grazyna Pawlak und Helise Lieberman – haben die Renaissance des jüdischen Lebens in Polen so intensiv wie kaum jemand anders vorangetrieben.

Die Amerikanerin Helise Lieberman gründete zunächst im Auftrag der Ronald-Lauder-Stiftung die erste jüdische Schule in Warschau. Sie leitete die Einrichtung über Jahre und ist heute Direktorin des Warschauer Zentrums der Taube-Stiftung für die Erneuerung des Jüdischen Lebens in Polen.

Grazyna Pawlak initiierte in den 1990er Jahren den Bau des Museum der Geschichte der polnischen Juden und sammelte die ersten Millionen Dollar für das ambitionierte Projekt. 2013 konnte das Museum – nach fast 20 Jahren Entwicklungs- und Bauzeit – endlich eröffnet werden.

Pawlak steht seit 2003 der eigenen Moses-Schorr-Stiftung vor und lockt mit ihrem breiten Bildungs- und Hebräisch-Kurs-Programm immer wieder neue Interessierte in das »Weiße Haus« neben der Nozyk-Synagoge.

»Noch zeigen die ›Wackeljuden‹ die ›Renaissance des Judentums‹ im Zerrspiegel«, sagt Pawlak, lacht und zuckt mit den Schultern. »Aber die chinesische Winke-Katze als neuer Glücksbringer ist schwer im Kommen.«

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