In Panevezis wie in vielen litauischen Städten leben heute fast keine Juden mehr. Früher machten sie die Mehrheit der Bevölkerung aus. Panevezis, eine Großstadt mit rund 115.000 Einwohnern, liegt auf halbem Weg zwischen Vilnius und Riga. Ihren Namen hat die Stadt vom Fluss Nevezis, der wiederum hat ihn vom Hauptwirtschaftszweig der Gegend: dem Getreidemahlen und -handeln.
soldaten Eine der zahlreichen Mühlen befand sich in der heutigen Respublikosstraße und gehörte bis Ende des 19. Jahrhunderts der Familie Abramowitz. Nach der Teilung Polens im Jahre 1772 und dem Anschluss Litauens an Russland mussten die Juden um ihr Leben fürchten, denn der Zar zwang die jungen Männer, Soldaten zu werden. So legte Nisson Abramowitz, das Familienoberhaupt, seinen Kindern die Auswanderung nach Südafrika nahe.
Die Spuren der Familie sind noch heute sichtbar. In der ehemaligen Mühle aus rotem Backstein, in der sich bis 1941 die Talmud-Tora-Schule befand, werden heute Messgeräte repariert. Eine Gedenktafel weist auf die ursprüngliche Nutzung des Gebäudes hin. Das Innere des Gebäudes wurde in den 50er-Jahren in mehrere kleinere Räume aufgeteilt. An der Ostwand in der Nische für den Aron Hakodesch hängt heute ein Waschbecken, wo sich die Monteure nach der Arbeit die Hände waschen. Geblieben ist nicht viel von damals. Vielleicht der Geschmack der Gurken vom Gemüsebeet im Hinterhof. Als »Malosol«, kurz eingelegt in wenig Salz, schmecken sie wahrscheinlich wie damals. Noch heute wird das Wasser aus dem alten Brunnen dafür verwendet.
backsteine Im ehemaligen Wohnhaus der Familie Abramowitz, das ebenfalls aus rotem Backstein gebaut ist, befindet sich heute »Eurojaunimas«, eine Firma, die Backsteine herstellt und vertreibt. Immerhin wurden die alten Wände bei Umbauarbeiten in den vergangenen Jahren stilvoll mit neuen Backsteinmustern kombiniert. Mehr noch: Der alte Ofen aus dem 18. Jahrhundert hat seinen stolzen Platz inmitten der modernen Büroeinrichtung gefunden. Das Bild über dem Ofen zeigt das Haus, wie es in den 50er-Jahren aussah. So haben es wahrscheinlich auch die Auswanderer vor 100 Jahren in Erinnerung behalten.
Viele jüdische Familien aus Polnisch-Litauen gingen, nachdem sie sich plötzlich im russischen Imperium wiederfanden, nach Südafrika. Heute sind rund 80 Prozent der Juden am Kap Litvesches, Juden aus Litauen.
mahnmal Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs lebten rund 10.000 Juden in Panevezis. Sie alle wurden von den Nazis vernichtet. Im östlich der Stadt liegenden Vorort Pajuostis befindet sich die Stelle, an der im Sommer 1941 die Massenerschießungen stattfanden. Heute ist es ein schlichter Gedenkort, ein Mahnmal gibt es nicht.
Im Stadtmuseum wird jüdisches Leben überhaupt nicht erwähnt. Kein einziges Wort über die Massenerschießungen im Sommer 1941 und auch nicht über die Tatsache, dass vier Jahrhunderte lang Juden die Mehrheit der Bevölkerung der Stadt ausmachten. In vielen litauischen Städten ist die jüdische Geschichte nur kümmerlich aufgearbeitet. Panevezis könnte überall in Litauen sein, einem Land, das seit fünf Jahren zur EU gehört.