Alvaro Orantes steht im Licht der offenen Tür und lächelt freundlich. Der Vorsitzende der Reformgemeinde von Guatemala-Stadt weist den Weg in die kleine Synagoge. »Das ist unser Haus. Vor drei Jahren kam eine kanadische Besucherin hier hereinspaziert – und ihr Besuch hatte ungeahnte Folgen für uns«, sagt Orantes und lächelt vielsagend.
Der muntere, kleingewachsene Mann ist Anfang 50 und trägt eine bunte Kippa. Eine reicht er auch dem Besucher am Eingang der Synagoge. Die ist im Erdgeschoss des zweistöckigen Wohnhauses untergebracht. Dort steht der metallbeschlagene Aron Hakodesch, und 20 einfache Plastikstühle warten auf die kleine Gemeinde, die sich am nächsten Tag zum Schabbatgottesdienst versammeln wird.
Heute ist nur Mario Llinarez da, der Assistent von Álvaro Orantes. Er steht nebenan in der Küche und kocht Kaffee – so wie damals, als die kanadische Besucherin kurz vor Pessach in Guatemala zu Gast war. Orantes hatte arge Schwierigkeiten, in der Stadt Mazzot aufzutreiben. »Überall, wo ich aufkreuzte, bekam ich abschlägige Antworten. Und so standen wir zwei Tage vor dem Fest ohne ausreichend Mazze da«, erinnert sich der Direktor und Gründer der Gemeinde »Adat Israel«. Nach dem ersten Gespräch mit Orantes, seiner Frau Jeannette und Mario Llinarez schlug sich Adrianne, die kanadische Besucherin, an die Stirn. »Ich habe Mazzot im Auto!«, rief sie, und gemeinsam gingen sie zu ihrem Jeep und holten mehrere Packungen vom Beifahrersitz. »Wir waren gerettet«, sagt Mario Llinarez.
Nachbarschaft Damals war die Gemeinde schon ein paar Jahre alt und hatte sich nach langer Suche in ein kleines Haus in der 12. Avenida im Stadtteil Mariscal eingemietet. Das ist seitdem die Adresse von Adat Israel – die im Ausland bekannter ist als in Guatemala. Warum? »Weil unsere Existenz von der etablierten jüdischen Gemeinde kaum zur Kenntnis genommen wurde«, so Álvaro Orantes.
Das jüdische Leben in Guatemala ist geprägt von der Einwanderung aus Europa ab Ende des 19. Jahrhunderts. Als Anlaufstelle in dem fremden Land fungierte die Organisation Sociedad Israelita, die die Neuankömmlinge mit Information und Hilfe versorgte. Mit diesem Teil der jüdischen Geschichte, jener von Auswanderung, Flucht und Neuanfang, haben Álvaro Orantes und Mario Llinarez jedoch nichts zu tun. »Wir passen nicht ins klassische Schema. Wir stammen nicht aus Europa, sondern sind hier in Guatemala aufgewachsen und haben das Judentum für uns entdeckt«, schildert Orantes den Hintergrund der Adat Israel.
Der Gemeindevorsitzende, der seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Kaffee und Tee verdient, wuchs als Kind eines katholischen Industriemechanikers und seiner aus dem Osten Guatemalas stammenden Frau auf. Doch er mag den Anspruch vieler Religionen nicht, den Menschen vorzuschreiben, was sie zu glauben haben. Mario Llinarez, der Psychologie studiert hat und heute mit Straßenkindern arbeitet, gefällt hingegen das jüdische Gebot, Schwächeren zu helfen.
Rabbiner Orantes und Llinarez gehören zu den treibenden Kräften in der rund 30 Mitglieder zählenden Gemeinde. Jahrelang hatten sie Schwierigkeiten, einen Rabbiner zu finden. »Auf viele Briefe erhielt ich noch nicht einmal eine Antwort«, sagt Orantes mit bitterer Miene. Er fühlt sich geschnitten von den wohlhabenden Kreisen der jüdischen Gemeinschaft im Land. Die seien ein wenig arrogant, mehrheitlich weiß und wollen mit den aus einfachen Verhältnissen stammenden Juden in der angemieteten Synagoge nichts zu tun haben, mutmaßt er.
Das hat den Start der kleinen Gemeinde erschwert. Es brauchte erst internationale Kontakte, um schließlich auch im eigenen Land anerkannt zu werden. Die World Union for Progressive Judaism (WUPJ) und Adrianne halfen dabei.
Die Kanadierin knüpfte im Anschluss an ihren Besuch in der 12. Avenida den Kontakt zu Elyse Goldstein. Sie ist Kanadas erste Rabbinerin – eine quirlige, herzliche Frau, die der Adat Israel hilft, wo sie kann. »Vor ungefähr zwei Jahren hat sie mich und meine Frau nach Mexiko eingeladen und damit unsere Gemeinde auf ein ganz neues Fundament gestellt«, sagt Álvaro Orantes. Dort saßen sie alsbald einigen WUPJ-Repräsentanten gegenüber, und wenig später war klar, dass die Gemeinde eine echte Chance auf Anerkennung hatte.
Schwestergemeinde Seit Juni 2013 ist Guatemalas erste Reformgemeinde offiziell registriert. Ein Novum ist auch, dass mit Elyse Goldstein erstmals eine Rabbinerin im Land aktiv ist. Die Kanadierin reist jedes Jahr für ein paar Wochen aus Toronto an und ist dann für alle religiösen Fragen ansprechbar. »Das funktioniert«, betont Orantes, aber er gibt offen zu, dass Adat Israel sich keinen eigenen Rabbiner leisten könnte. Ohne die Hilfe der Schwestergemeinde in Toronto, in der Elyse Goldstein amtiert, wäre auch die Miete für die kleine Synagoge kaum zu finanzieren.
Im ersten Stock hat Mario Llinarez eine kleine Bibliothek untergebracht, daneben gibt es ein Gästezimmer. »Wir sind schon weit gekommen«, sagt Llinarez. Er stöbert öfter in der Bibliothek und vergisst dabei manchmal die Zeit. Für ihn ist die kleine Synagoge in der 12. Avenida längst zu einem zweiten Zuhause geworden.