London

Red Alert an der Themse

Zwei Polizisten in neongrünen Schutzwesten stehen an einer Straßenkreuzung neben einem riesigen Supermarkt in Stamford Hill. An einem markanteren Ort kann man sich nicht aufstellen in jenem Viertel im Londoner Norden, wo die Mehrheit der ultraorthodoxen jüdischen Gemeinschaft der Stadt lebt. Das ist bewusst gewählt, um die Sicherheit in jüdischen Gegenden zu erhöhen. Nach dem Terror Anfang des Monats in Paris hat die britische Polizei das Risiko von Anschlägen gegen jüdische Einrichtungen in Großbritannien als noch höher eingestuft.

Im Lubawitschhaus, einer der vielen jüdischen Grundschulen in der Gegend, spielen die Kinder gerade auf dem Hof hinter einem zwei Meter hohen Metallzaun. Eine kleine Gruppe Sechsjähriger schaut neugierig zur Straße hinaus. Von einem erhöhten Punkt aus werden die Kinder von einem Sicherheitsmann und einem Lehrer bewacht. Doch bei einem gezielten Angriff wie im koscheren Supermarkt in Paris oder vor der jüdischen Schule in Toulouse vor drei Jahren würde dies kaum helfen.

Nach Angaben von Innenministerin Theresa May wurde die Sicherheit jüdischer Einrichtungen und Wohnviertel bereits seit der Zunahme antisemitischer Angriffe im vergangenen Sommer verstärkt. Sicherheitskräfte, Polizei und führende Vertreter der jüdischen Gemeinde seien inzwischen ständig miteinander im Gespräch – seit den Pariser Anschlägen umso mehr. Die Innenministerin griff vergangene Woche die Worte des französischen Premierministers Manuel Valls auf und sagte, dass Großbritannien ohne Juden nicht Großbritannien wäre.

Beunruhigung Dave Rich vom Community Safety Trust (CST), einer Stiftung, die sich seit fast zwei Jahrzehnten um die Sicherheit jüdischer Einrichtungen in Großbritannien kümmert, sagte der Jüdischen Allgemeinen, er hätte in den vergangenen Wochen mehr Personal einstellen müssen, so hoch seien der Bedarf und die Beunruhigung in der jüdischen Gemeinschaft.

Erhebungen belegen, dass Angriffe auf Juden in Großbritannien seit dem vergangenen Jahr zugenommen haben. Doch Rich hält nicht viel von solchen Erhebungen. Zwar seien die Angriffe seit dem letzten Gaza-Krieg gestiegen, doch weniger als zehn Prozent der Briten fänden Juden nicht sympathisch, betont er. Laut einer Studie des Meinungsforschungsinstituts YouGov vom Februar 2014 glauben allerdings 45 Prozent aller Briten dem einen oder anderen antijüdischen Stereotyp. Dave Rich behauptet dennoch, das bedeute nicht sofort, dass es im Land eine feindselige Einstellung gegenüber Juden gebe.

Kontrolle In Barry’s Kosher Food Store, einem Lebensmittelladen in Stamford Hill, gibt es trotz der Anschläge von Paris keine Kontrolle am Eingang. Sion, ein untersetzter Kassierer, sagt, er habe jetzt viel mehr Angst, aber die Kunden kämen dennoch wie gewohnt. Man könne nichts machen, sagt er. Nur Haschem, der Allmächtige, könne Schlimmes verhindern.

In Shlomys Judaica-Laden auf der anderen Straßenseite sind die Antworten ähnlich. Der 22-jährige Shalom Fabish meint, es sei nicht in Ordnung, dass die Polizisten in Großbritannien keine Schusswaffen tragen – ja sogar die Verkäufer bräuchten welche. Moshe Horowitz (39), ein ultraorthodoxer Kunde im Laden, widerspricht Fabish: »In Amerika tragen alle Waffen. Es ist dadurch viel brutalerer dort«, sagt er. Ein weiterer Mann im Judaica-Laden, Moishe Greentel, meint schließlich, dass nur Gott helfen könne. Dem widerspricht keiner.

Viele andere in Stamford Hill geben die gleichen Antworten, oft mit einem Hang zur Resignation. Immer wieder hört man Sätze wie: »Was kann die Polizei schon tun?« Auch Rebekka (32) vom Spielzeuggeschäft in der Oldhill Street sagt: »Ich habe Angst – um meine Kinder und jedes Mal, wenn ich auf die Straße gehe.« Dass einzig Gute sei, dass sie eine vernetzte und enge Gemeinschaft sind, meint sie. »Das gibt mir ein Gefühl von Sicherheit.« Einige Ladeninhaber lassen inzwischen nur noch Kunden eintreten, die sie persönlich kennen. Doch gegen Gewalt hilft auch dies kaum.

Wachmänner 40 Bahnminuten nordwestlich, am JW3, Londons größtem jüdischen Kulturzentrum, stehen seit Kurzem zwei Wachmänner statt nur einem. Bevor man eintritt, werden die Taschen kontrolliert. JW3, das erst vor einem Jahr öffnete, verfügt über Sicherheitsglas und viele weitere Vorkehrungen. Die Sprecherin des Zentrums will über die neuen zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen nichts sagen. Man möchte die Besucher nicht beunruhigen.

Wer vom JW3 mit der Bahn weitere zehn Minuten nach Norden fährt, kommt nach Golders Green, in ein weiteres jüdisches Viertel. Hier haben sich viele Israelis niedergelassen – wie Ofer, Mitte 40, kurzes Haar und Nickelbrille. Er ist Manager von Steimatzky UK, der britischen Filiale einer israelischen Buchhandelskette. Auf dem Fenster seines Ladens in der Hauptgeschäftsstraße steht der Name Steimatzky in großen Lettern auf Englisch und Hebräisch. Zur Sicherheitslage gefragt, lächelt Ofer. »Es ist so wie immer«, sagt er. »Wir sind es gewohnt, wir sind Israelis.« Von der erhöhten Anzahl von Sicherheitskräften, die die britische Regierung und CST seit den Pariser Anschlägen mobilisiert hat, bemerke er kaum etwas, sagt er. Nur vergangenen Freitag, als viele ihre letzten Einkäufe vor dem Schabbat machten und dann in die Synagogen gingen, habe es ein größeres Sicherheitsaufgebot gegeben.

Glauben Ein Stück weiter in der Golders Green Road befindet sich das kleine Schnellrestaurant »Pita«. Salomon Krispin, ein schlanker Israeli in grauem Sweatshirt und schwarzer Kippa, verkauft hier, wie er selbst meint, »die besten Falafel Londons«. Im Hintergrund dröhnt lauter Misrachi-Pop. »Die Leute müssen aus ihrem Dornröschenschlaf aufwachen«, sagt der 30-Jährige. »Sie müssen sich mit offenen Augen mehr um ihre Sicherheit kümmern«, folgert er und fügt eine Art Predigt hinzu: »Du brauchst Emmuna, Glauben! Wenn du an den Allmächtigen glaubst, wird Haschem auf dich aufpassen, und du wirst gerettet werden.«

Befragt nach der Meinung seines Angestellten, der keine Kippa trägt, erklärt Krispin: Der junge Mann sei nicht Jude, sondern Muslim. »Meine Kunden lieben ihn!«, versichert er. Adam Mohammed (26) antwortet selbst: »Wir arbeiten sehr gut zusammen. Im Islam gibt es viele gute Leute und einige schlechte. Im Judentum ist es genauso.« Man versteht sich, die gute Beziehung zwischen Juden und Muslimen wird hier im Schnellrestaurant direkt erlebt. Vielleicht hilft das – zumindest hören sich Adam und Salomon nicht so niedergeschlagen an wie viele andere im Londoner Norden. Doch gegen Terror und Extremismus mag ihre Allianz wohl wenig nutzen.

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