Das »National Council of Jewish Women« (NCJW), eine Lobbyorganisation für jüdische Frauen in den Vereinigten Staaten, ist bereit. Bereit, für das Recht auf Abtreibung zu kämpfen, oder eher: für die Verteidigung des noch bestehenden Rechts. Doch dass der Protestmarsch, den die Organisatorinnen bereits seit Längerem für den 17. Mai in der Hauptstadt Washington, D.C. geplant hatten, so brandaktuell sein würde, hätten sie nicht gedacht.
Sie fühle sich »traurig und inspiriert« zugleich, sagt NCJW-Direktorin Sheila Katz gegenüber der israelischen Tageszeitung »Haaretz«. »Wir hatten mehrere Hundert Teilnehmer und Teilnehmerinnen erwartet, jetzt wollen Leute in Bussen aus dem ganzen Land kommen.«
Urteilsbegründung In der vergangenen Woche hatte das Online-Nachrichtenmagazin »Politico« den vertraulichen Entwurf einer Urteilsbegründung aus dem Supreme Court veröffentlicht. Danach plant der Oberste Gerichtshof der USA, das seit 1973 festgeschriebene Recht auf Abtreibung – bekannt unter dem Namen »Roe v. Wade« – zu kippen.
Das wäre die späte Erfüllung eines Wahlversprechens, das Ex-Präsident Donald Trump den evangelikalen Christen 2016 im Gegenzug für ihre Stimmen gegeben hatte. Trump ernannte während seiner Amtszeit zwei erzkonservative Richter für den Supreme Court. Damit steht die Mehrheit der neun Mitglieder des höchsten US-Gerichts der Republikanischen Partei nahe.
In 26 – also gut der Hälfte – der US-Bundesstaaten, vor allem im konservativen Süden, gibt es bereits restriktive Abtreibungsgesetze.
Mit dem Ende des nationalen Abtreibungsrechts würde die Entscheidung an die Einzelstaaten fallen. In 26 – also gut der Hälfte – der US-Bundesstaaten, vor allem im konservativen Süden, gibt es bereits restriktive Abtreibungsgesetze, von denen die meisten jedoch noch nicht in Kraft sind. Wird Roe v. Wade annulliert, könnten diese Gesetze künftig nicht mehr vor dem Obersten Gerichtshof angefochten werden.
Rechtsexperten erwarten ferner: Ohne das nationale Korrektiv dürften einige Staaten ihre strengen Abtreibungsgesetze verschärfen; andere Staaten könnten neue restriktive Gesetze erlassen – bis hin zu einem kompletten Abtreibungsverbot. Das endgültige Urteil des Obersten Gerichts wird für Ende Juni erwartet.
Widerstand »Viele Mitglieder der jüdischen Community haben diesen Schritt kommen sehen«, sagt Lisa Fishbayn Joffe, Professorin für Frauen- und Geschlechterstudien an der Brandeis University im US-Bundesstaat Massachusetts. Für die nächsten Wochen erwartet sie lauten und vielstimmigen Widerstand aus einem breiten Spektrum der jüdischen Gemeinschaft. Eine aktuelle Umfrage des Jewish Electorate Institute ergab, dass 75 Prozent der jüdischen Wähler in den USA eine Aufhebung von Roe v. Wade ablehnen.
»Abtreibung ist ein wirtschaftliches Thema, es ist ein Thema der sozialen Gerechtigkeit, und es ist ein jüdisches Thema«, sagte Rabbi Rick Jacobs, Präsident der Union for Reform Judaism, der jüdischen Reformbewegung in den USA. »Wir werden mit all unserer Kraft für das Recht auf Abtreibung kämpfen.«
Auch die Rabbinical Assembly, die internationale Vereinigung Konservativer Rabbiner, erklärte in einem Statement, ihre Mitglieder seien »tief besorgt« über den Entwurf des Obersten Gerichtshofs. »Jüdische Tradition ehrt die Heiligkeit des Lebens, und das schließt das potenzielle neue Leben während einer Schwangerschaft ein. Aber wir glauben nicht, dass die Existenz als juristische Person (…) mit der Empfängnis beginnt, sondern vielmehr mit der Geburt, so wie es in Exodus 21, 22–23 beschrieben wird.«
Die Jüdisch-Orthodoxe Feministische Allianz (JOFA) erklärte, sie unterstütze das Recht jeder Frau, »Entscheidungen über ihren eigenen Körper zu treffen, (…) frei von Stigma, mit Respekt und Würde«.
Die unterschiedlichen jüdischen Gruppierungen sind sich in ihrem Unwohlsein über den geleakten Entwurf zwar weitgehend einig. Doch bei der detaillierten Auslegung der Halacha, dem jüdischen Religionsrecht, gehen die Positionen durchaus auseinander.
ethik Für Lisa Fishbayn Joffe von der Brandeis University steht fest: »Ein Ende des Rechts auf Abtreibung widerspricht jüdischem Recht und jüdischer Ethik.« Nach jüdischem Recht sei Abtreibung nicht nur in bestimmten Situationen erlaubt, sondern auch geboten – »wenn die Gesundheit der Mutter zu irgendeinem Zeitpunkt der Schwangerschaft in Gefahr ist«.
Kippt der Supreme Court das Abtreibungsrecht, ist dies ein Angriff auf die Religionsfreiheit von Juden.
Allerdings seien Gesundheit und Wohlergehen der Mutter häufig eine Frage der Definition, betont Rabbi Gordon Tucker, Vize-Kanzler des Jewish Theological Seminary (JTS) in New York, dem akademischen Zentrum des konservativen Judentums in den USA.
»Als gläubige Juden ist es unsere Verantwortung, achtsam mit uns und unserem Körper umzugehen«, erläutert Tucker. »Deshalb dürften viele vor allem konservativere und orthodoxe Juden die Haltung – ›Das ist mein Körper, ich kann damit machen, was ich will‹ – eher kritisch betrachten.« Er erinnert an frühere leidenschaftliche Debatten über die Vereinbarkeit von Piercings mit jüdischem Recht. »Und in jüdischer Tradition gilt der Fötus als Teil des weiblichen Körpers.«
tay-sachs-syndrom Zugleich sieht Tucker zahlreiche potenzielle Konflikte zwischen jüdischem Recht und dem künftigen Recht in US-Bundesstaaten mit restriktiven Abtreibungsregeln. So akzeptierten in der Vergangenheit selbst orthodoxe Rabbiner eine pränatale Diagnose des Tay-Sachs-Syndroms bei einem Fötus als Grund für eine Abtreibung. Tay-Sachs ist eine unheilbare Stoffwechselstörung, die gehäuft bei jüdischen Kindern auftritt und innerhalb weniger Jahre zu einem oft qualvollen Tod führt. Doch in einigen US-Bundesstaaten würde eine solche Diagnose keine Abtreibung rechtfertigen.
Ein anderes Beispiel: In Georgia sind Abtreibungen nach der sechsten Schwangerschaftswoche verboten. Es gibt »medizinische Ausnahmen«, von denen psychiatrische Diagnosen ausgeschlossen sind. Doch seien sich »viele konservative und sogar orthodoxe jüdische Rechtsgelehrte einig, dass die Gefahr einer tiefen psychischen Verletzung der Mutter durch die Schwangerschaft eine Abtreibung rechtfertigt«, sagt Tucker.
Vor allem für orthodoxe Organisationen ist die Positionierung in der Abtreibungsfrage nicht nur ein religionsrechtlicher, sondern auch ein politischer Balanceakt. Einige dieser Gruppierungen haben in den vergangenen Jahren den Schulterschluss mit der Republikanischen Partei und den rechtskonservativen evangelikalen Christen gesucht – insbesondere bei Fragen wie Bildung und Erziehung, LGBTQ-Rechten und in der Israel-Politik.
stellungnahmen Entsprechend vage fielen einige Stellungnahmen zur geplanten Aufhebung des Abtreibungsrechts aus. Die Orthodoxe Union beklagte die »extreme Polarisierung« des Themas. »Das menschliche Leben – und der Wert jedes Einzelnen, der in Gottes Bild geschaffen wurde – sind zu wichtig, um als politischer Spielball benutzt zu werden.« Matt Brooks, Vorsitzender der Koalition Jüdischer Republikaner, erklärte, dass es sich bei dem geleakten Dokument bislang nur um einen Entwurf handele.
Ob reformiert oder orthodox, politisch liberal oder konservativ – in einem Kritikpunkt scheinen sich die jüdischen Gemeinden und Organisationen einig zu sein: Kippt der Supreme Court das Abtreibungsrecht, dann ist das ein Angriff auf die Religionsfreiheit von Juden in den USA.
Vor allem für orthodoxe Organisationen ist die Positionierung in der Abtreibungsfrage nicht nur ein religionsrechtlicher, sondern auch ein politischer Balanceakt.
»Darf ein säkularer Staat derartig in das Leben seiner Bürger eingreifen?«, fragt Rabbi Tucker. Und gibt sich selbst die Antwort: »Jeder sollte die Freiheit besitzen, eine so komplexe und tief persönliche Entscheidung mit sich selbst, seinem Gewissen, seiner Familie, seinem Arzt, seinem Rabbiner und seinem Gott zu treffen.«
interpretation Der Entwurf zeige eine »extrem enge, konservativ-christliche Interpretation des anglo-amerikanischen Rechts«, betont Frauenforscherin Joffe, die von Haus aus Juristin ist. Eine Interpretation, die Menschen anderer Glaubenstraditionen oder auch Menschen, die sich keiner Glaubenstradition zugehörig fühlen, ungeschützt lasse. »Das ist in hohem Maße unangemessen«, sagt Joffe.
Und mehr als das: Unter dem künftigen Recht droht jüdischen Amerikanerinnen in einigen Bundesstaaten die strafrechtliche Verfolgung, wenn sie in Übereinstimmung mit jüdischer Tradition eine Abtreibung vornehmen lassen. Auch Rabbiner, die den Frauen spirituellen Rat erteilen, würden sich strafbar machen. »Und das ist eine klare Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit«, sagt Joffe – festgeschrieben ist das Recht im Ersten Verfassungszusatz der USA.