Es gab einen Zeitpunkt, an dem hätte Olga Elschanskaja beinahe aufgegeben. David kapselte sich von seiner Umwelt ab. Mit düsterer Miene saß der Jugendliche auf seinem Bett im Moskauer Heim, den Blick auf seine Füße gerichtet. Auf Ansprache reagierte er kaum. »Damals habe ich gedacht: Ob es gut war, David aus seiner tschetschenischen Heimatstadt Grosny hierher zu bringen?«, sagt die ehrenamtliche Mitarbeiterin der Jewish Agency for Israel.
David ist eine Waise: Als Kind verlor er Vater und Mutter im Tschetschenien-Krieg. Zunächst kümmerte sich die Großmutter Vera um ihn. Irgendwann musste sie David an ein Heim geben. Dort blieb er, bis sich die Heimleitung Anfang 2010 mit einem Brief an die israelische Botschaft in Moskau wandte. In der Einrichtung lebe der jüdische Waisenjunge David Naumkin. Er sei längst volljährig, könne nicht länger dort bleiben, ob die Botschaft helfen könne. Doch die Botschaft erteilte eine Absage. Alle Papiere, die Davids jüdische Herkunft belegen könnten, gingen im Krieg verloren. Seine Lebensgeschichte lässt sich nur mit mündlichen Zeugnissen rekonstruieren.
spurensuche »Als ich von dem Fall erfuhr, wusste ich, ich will helfen«, sagt Elschanskaja. Sie suchte nach Belegen für Davids jüdische Abstammung. »Zunächst einmal ist da der Name«, sagt sie. »David« sei in Tschetschenien unüblich. Würde der Junge zur muslimischen Bevölkerungsmehrheit gehören, hieße er Daoud. »Außerdem habe ich im Internet recherchiert«, fährt sie fort. »Es hat sich gezeigt, dass ich nicht die erste bin, die sich für David interessiert.« In einem Text auf der Website der »Agentur für jüdische Nachrichten« (Agentstwo Jewrejskich Nowostej) aus dem Jahr 2003 ist die Rede von zwei jüdischen Heimkindern, dem neunjährigen David und seiner drei Jahre älteren Cousine Emma.
In mehreren Telefonaten mit Emma erfuhr Elschanskaja, dass die mittlerweile verstorbene Großmutter Vera den Kindern viel vom Judentum und jüdischen Bräuchen erzählt habe. Einmal, so erinnerte sich Emma, habe die Oma heftig mit Davids Vater gestritten, weil der den Jungen nach muslimischem und nicht jüdischem Ritus beschneiden lassen wollte. Elschanskaja hält es für plausibel, dass der Vater aus Angst vor dem starken Antisemitismus in Tschetschenien für den muslimischen Ritus war.
Die Anhaltspunkte genügten Elschanskaja. Sie holte David aus Grosny nach Moskau. Und als er sich in der neuen Umgebung in sich selbst verkroch, bat sie die Psychologin Farisa Musajewa, mit David zu sprechen. »Für die enormen Anpassungs- und Kontaktprobleme gibt es zwei Gründe«, sagt die 53-jährige Tschetschenin Musajewa, die Ende der 90er-Jahre Kriegsflüchtlinge aus der Kaukasusrepublik betreute.
lebensalternative »Zum einen hat der Junge das Kriegstrauma nie verarbeitet. Sein Leben war bestimmt von Tod, Chaos und Ungewissheit.« Zum anderen sei David jetzt in Moskau aus seiner vertrauten Umgebung gerissen. Die erneute Unsicherheit wecke Erinnerungen und verstärke das Trauma. Trotz aller Anlaufschwierigkeiten, hält Musajewa es für einen Glücksfall, dass die Jewish Agency ihn nach Moskau gebracht hat. »Das ist seine einzige wirkliche Chance auf ein selbstbestimmtes Leben«, sagt die Psychologin.
Doch bis es soweit ist, muss das Trauma verarbeitet werden, David muss richtig lesen, schreiben und Russisch lernen, und er muss auf das Berufsleben vorbereitet werden. Sorgen macht Elschanskaja die Finanzierung der Arbeit. Sie hofft, dass sie weltweit Unterstützer gewinnen kann. Ihre kurzzeitigen Zweifel am Sinn der Unternehmung hat sie längst abgelegt: Vor Kurzem schickte sie ihren Schützling in ein Machane ans Schwarze Meer. Aus Moskau rief sie David an und fragte, ob er sich wohlfühle. »Ja«, habe er da zum ersten Mal geantwortet. »Ich gehe jetzt mit meinen Freunden an den Strand schwimmen.« Elschanskaja und Musajewa werten das als einen großen Fortschritt.