Es ist eine traurige und gemeine Geschichte. Und beinahe wäre es auch eine typische Geschichte, wenn sie die Wahrheit nicht auf so überspitzte, radikale Weise ans Licht bringen würde.
Voilà: Wenn man ein bisschen herumsucht, kann man im Internet ein paar Bilder einer hübschen Frau betrachten, die einen Bikini trägt. Die Gebote der Tzniess oder Tzniut, also der Keuschheit, kümmern die junge Dame offenbar nicht, denn sie schaut mit offenem, wachem Blick in die Kamera. Unter den Bildern heißt es: »Ich bin ein vielsprachiges Model ... Ich bin Tänzerin, Schauspielerin und DJ ... Ich liebe Komödien und die Menschheit in ihrer Vielfalt.«
Was man auf den Bildern nicht sieht: Das Model ist Mutter von vier Kindern. Der Name der jungen Dame ist Pearlperry Reich. Sie ist in Brooklyn ultraorthodox aufgewachsen – im Stadtteil Boro Park – und kämpft um das Sorgerecht für ihre Kinder.
züchtig Pearlperry Reich wurde mit 18 Jahren verheiratet. Es war eine arrangierte Ehe, wie das bei sehr frommen Leuten üblich ist. Das kann gut gehen, es kann auch schiefgehen. Im Fall von Pearlperry Reich ging es sehr schnell schief. Ein Foto zeigt sie mit ihrem Ex-Mann, der Sinai Meir Susholz heißt. Er trägt Bart und Streiml, sie ein züchtiges Kleid, der Mann balanciert einen kleinen Jungen, sie ein Mädchen auf den Knien. Die beiden Erwachsenen lächeln bemüht in die Kamera.
Sie sagt, er habe sie von Anfang an missbraucht – seelisch wie körperlich. Über Details will sie nicht sprechen. Aber diese Einzelheiten sind immerhin doch ans Licht gekommen: Sinai Meir Susholz hat ihre Perücke, die 4.000 Dollar gekostet hatte, zerschnitten (wie alle ultraorthodoxen Frauen trug Pearlperry Reich eine Perücke über ihrem rasierten Schädel). Einmal warf er ihre Turnschuhe in den Müll, einmal stahl er ihre Brille.
Vor ihrer Tochter beschimpfte er sie als »Schlampe«. Die Behörden scheinen die Misshandlungsvorwürfe sehr ernst zu nehmen. Zumindest gab es eine einstweilige Verfügung, die dem Ehemann verbot, sich der Frau zu nähern. Er hatte ihr eine SMS mit folgendem Inhalt geschickt: »Du spielst mit dem Feuer und wirst das erst dann merken, wenn es zu spät ist.«
Scheidung Sechs Jahre lang hielt es Pearlperry Reich in ihrer kalten, von Angst erfüllten Ehehölle aus, dann wagte sie den Ausbruch. Heute lebt die mittlerweile 30-jährige Frau nicht mehr in Brooklyn, sondern in einem Ort in New Jersey. Ihre Eltern waren gegen die Scheidung, die Rabbiner ebenso. Sie wollten nicht, dass sie zur Polizei ging, um ihren Mann anzuzeigen, wenn er sie misshandelte. »Seine Eltern veranstalteten ein Treffen mit meinen Eltern«, erzählt Reich. »Sie nannten mich eine Schlampe und eine Hure, und meine Eltern widersprachen nicht.« Kein Wunder, dass sie von den Chassidim in Boro Park die Nase gestrichen voll hat.
Die meiste Zeit leben die vier Kinder bei ihr. Der Fall wird allerdings dadurch kompliziert, dass vor einem Beit Din folgende Absprache getroffen wurde: Die Eltern erziehen die Kinder gemeinsam und halten sich dabei an die orthodoxen Grundsätze. So ist nun ein absurder Streit entstanden: Ist es in Ordnung, wenn Pearlperry Reich vor ihren Töchtern Hosen trägt? (Hosen zu tragen ist für eine ultrafromme Tochter aus jüdischem Haus ein Akt der offenen Rebellion.)
Bricht die Welt zusammen, wenn sie vor den Kindern ihren Freund küsst? Pearlperry Reich betont, dass sie einen koscheren Haushalt führt und sich – wegen der Kinder – an die halachischen Regeln hält, auch wenn sie nicht mehr an die Sache glaubt. Ihr Mann hinterlässt unterdessen auf ihrer Facebook-Pinnwand (sie hat dort mittlerweile rund 2.000 Freunde) folgende Nachricht: »Hier geht es um viel tiefere Dinge. Sie ist unfähig, auf längere Sicht logisch zu denken und folgt ständig ihren sexuellen Neigungen.«
Bücher Anders als Pearlperry Reich benutzt Deborah Feldman nicht die neuen elektronischen Medien, um ihre Geschichte zu erzählen, sondern sie hat ein Buch geschrieben. In Unorthodox erzählt sie, wie sie als Mitglied der Satmarer Chassidim aufwuchs, wie sie mit 17 einen Jungen heiratete, den sie eine halbe Stunde vorher kennengelernt hatte, wie sie Romane von Jane Austen versteckte und heimlich las.
»Ich habe auch meine Geheimnisse«, heißt es an einer Stelle. »Ob Bubbe mich verpetzen würde? Ich verstecke meine Bücher unterm Bett, sie versteckt ihre in der Unterwäsche. Einmal im Jahr, wenn Seide« (der Großvater) »das Haus vor Pessach inspiziert und in unseren Sachen herumstochert, drücken wir uns voller Sorge herum, voller Angst, er könnte unser Geheimnis entdecken. (...) Wir wissen beide, dass unser kleiner Vorrat an säkularen Büchern meinen Großvater noch mehr schockieren würde als ein Haufen von Chametz.«
Weiter schreibt sie: »Bubbe käme vielleicht mit einer Strafpredigt davon, aber nichts würde mich vor dem vollen Zorn meines Großvaters bewahren. Wenn mein Seide zornig wird, scheint sein weißer Bart sich zu erheben und sich um sein Gesicht zu breiten wie eine feurige Flamme. Ich gehe in der Hitze seines Zorns sofort ein. ›Der tumeneh sprach!‹, donnert er, wenn er mich mit meinen Cousins Englisch reden hört.« Die unreine Sprache.
Deborah Feldman hat mit ihrem Buch großen Erfolg, auch im amerikanischen Fernsehen ist sie schon aufgetreten. Die Satmarer Chassidim in Brooklyn – wen wundert’s – sind darüber nicht erfreut. Feldmans Familie zeigt sich tief verletzt. Aber es lässt sich wohl nicht mehr aufhalten: Ultraorthodoxe Frauen wie sie und Pearlperry Reich werden in der Öffentlichkeit über das sprechen, was sie in ihrem Herkunftsmilieu erlebt haben.