Wegen Corona waltet Professor Wout van Bekkum an der staatlichen Universität im niederländischen Groningen nach wie vor seines Amtes. Die Suche nach einem geeigneten Nachfolger für das Institut für Nahoststudien, dessen Gründer er ist – mit fast 40 Studierenden pro Jahr ein beliebtes Orchideenfach –, gestaltet sich schwieriger als in normalen Zeiten.
Oranje-Nassau Wegen seiner vielen Verdienste hat der 66-Jährige kürzlich ein Ehrenzeichen erhalten. Er darf sich jetzt »Officier in de Orde von Oranje-Nassau« nennen – eine königliche Auszeichnung, vergleichbar mit dem Bundesverdienstkreuz.
Am Ende dieses Jahres aber hofft van Bekkum, emeritiert zu werden, um sich ganz seiner selbst gewählten neuen Aufgabe widmen zu können: der Übersetzung von Maimonides’ Führer der Unschlüssigen ins Niederländische.
Vor einigen Jahrzehnten hat er das Institut für Nahoststudien gegründet.
»Was Maimonides anbelangt, besteht hierzulande Nachholbedarf«, sagt er. »Man hat sich bisher zu helfen gewusst mit qualitativ ausgezeichneten deutschen Übersetzungen. Aber Maimonides sollte man in der eigenen Muttersprache lesen, denn seinen Einfluss auf das Judentum kann man kaum überschätzen.«
Spezialist Van Bekkum, weltweit bekannter Spezialist für semitische Sprachen, überträgt den Führer der Unschlüssigen direkt aus dem Judeo-Arabischen, dessen Maimonides sich bedient hat. »Man muss den Text Wort für Wort, Abschnitt für Abschnitt schmecken, um ihn richtig übersetzen zu können. Es ist eine schwangere Sprache, die gebären möchte«, begeistert sich der Professor.
Da van Bekkum in erster Linie Wissenschaftler ist, läge es auf der Hand, einen Wälzer mit vielen Fußnoten vorzulegen, aber das möchte er nicht. »Ich stelle mir vor, dass die Übersetzung beim Leser zu Hause einfach auf dem Tisch liegt, man dann und wann einmal hineinschaut, einen Absatz liest und darüber nachdenkt. Das hätte einen Sinn und würde mich freuen.«
Seine Übersetzerqualitäten sind van Bekkum schon vorher zugutegekommen. Er hat ab der Mitte der 70er-Jahre eine ganze Zeit lang die Texte von mehr als 6000 jüdischen Grabsteinen entziffert und sie so für die Zukunft bewahrt.
»Es waren vor allem Grabsteine in der Provinz Groningen, aber auch Stelen im benachbarten Ostfriesland«, erzählt van Bekkum. Der damalige Reichsarchivar in Groningen, Jan de Vey Mestdagh, fürchtete, dass dieser Schatz für immer verloren gehe, wenn die Texte nicht übersetzt würden. Da kam ich ins Spiel.«
Die Grabsteine an sich sind ein Archiv der Entwicklung der jeweiligen jüdischen Gemeinschaften, erklärt van Bekkum. So kann man anhand der Texte die Emanzipation und Integration der holländischen Juden ablesen. Im Laufe der Jahrzehnte wurden die Texte immer niederländischer, auf Kosten des Hebräischen. Niederländisch war die Sprache der Leitkultur und wurde schon in der Grundschule vermittelt.
Interessant ist seiner Meinung nach eine kleine Gruppe sogenannter sprechender Steine aus der Stadt Groningen. Da müsse ein Freigeist am Werk gewesen sein, sagt van Bekkum. Die Texte sprächen direkt zum Friedhofsbesucher: »Halt, stopp, du, der du hier vorbeigehst. Unter mir liegt ein Gerechter, mit Namen so und so.« Oder aber: »Ich habe die Ehre, dir den und den vorzustellen.«
Grabinschriften Nach der Übersetzung von mehr als 6000 Grabinschriften fand es van Bekkum an der Zeit, sich anderweitig für die jüdische Gemeinschaft in Groningen einzusetzen. So wurde er 1982 Sekretär der »Stichting Folkingestraat Synagoge« und blieb das 30 Jahre lang.
Die Stiftung wurde gegründet, um die 1906 erbaute und Mitte der 70er-Jahre vor dem Abriss gerettete Synagoge sinnvoll nutzen zu können. Ein abgetrennter Teil wurde Bethaus für die örtliche jüdische Gemeinde, der Rest, einschließlich der Frauengalerie, wird für Kulturveranstaltungen verwendet.
Ende des Jahres hofft der Professor, in den Ruhestand zu gehen.
»Als Sekretär kamen mir meine Kenntnisse des Judentums zustatten wie auch mein Gespür für die Empfindlichkeiten der jüdischen Gemeinde in Groningen. Sie beäugt manchmal mit Misstrauen, was da so alles organisiert wird. Zum Beispiel gab es ein Bach-Konzert – das wurde zum Stolperstein, weil manche es zu christlich fanden. Aber im Großen und Ganzen hat es immer ganz gut geklappt.«
Unter anderem werden in der Synagoge jedes Jahr im Rahmen der Initiative »Offene Jüdische Häuser« Vorträge über die Lebensgeschichten der ehemaligen Bewohner oder Benutzer gehalten. Auch hier ist van Bekkum, selbst Sohn einer jüdischen Auschwitz-Überlebenden und eines christlichen Vaters, fast immer dabei. »Dass meine Mutter jüdisch war, hörte ich erst als Zwölfjähriger. Das war im Nachhinein entscheidend für meinen persönlichen und beruflichen Werdegang«, sagt er.
Die Schicksale, über die er erzählt, berühren ihn tief. Vor allem die der sogenannten »kleinen Leute«.
Jette Gans war so eine Frau. Sie wurde 1877 in Grijpskerk, einem Dorf bei Groningen, geboren und siedelte sich später in der Stadt an. Gemeinsam mit ihrem Mann betrieb sie einen kleinen Laden neben der Synagoge. »Mit dem Handel von Gemischtwaren ist die Familie mehr schlecht als recht durchgekommen. Aber es ging so. Doch dann kamen Krieg und Schoa«, erzählt van Bekkum. »Die Geschichte von Jette Gans, ihrem Mann und ihrem 23-jährigen Sohn endet 1943 in Sobibor. Sie hatten überhaupt keine Chance. Das berührt mich immer wieder, ich finde es unfassbar.«