Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Rosch Haschana per Erlass zu einem nationalen Feiertag erklärt. »Wir verstehen genau, wie wichtig dieser Feiertag für Zehntausende von Chassiden ist, die in die Ukraine kommen«, sagte Selenskyj, der selbst jüdisch ist.
Das jüdische Neujahr hat für die Ukraine eine besondere Bedeutung. Denn in der 80.000-Einwohner-Stadt Uman, rund zwei Autostunden südlich der Hauptstadt Kiew, befindet sich das Grab des berühmten Rabbi Nachman von Bratzlaw (1772–1810), zu dem jedes Jahr an Rosch Haschana Zehntausende ultraorthodoxe Juden aus aller Welt pilgern.
Begeisterung Ukrainische Juden haben mit Begeisterung aufgenommen, dass es Rosch Haschana auf die Liste der nationalen Feiertage geschafft hat. Die Gemeindemitglieder dürfen dann arbeitsfrei haben – so zumindest eine eindeutige Empfehlung an die Arbeitgeber.
Der ukrainische Oberrabbiner Reuwen Asman bedankte sich bei Selenskyj dafür, und auch jüdische Organisationen begrüßten den Schritt.
Ein jüdischer Kleinunternehmer aus der Umgebung Kiews sagt: »Es geht bei dieser Regelung ja nicht nur um jüdische Feiertage, sondern auch um etliche andere, aber es schafft endlich Sichtbarkeit.« Selenskyj mache normalerweise kein großes Aufheben um seine jüdische Herkunft, doch ausgerechnet er setzt »die richtigen Schritte« durch. »Schön, dass dies möglich ist.«
atheismus Ihor Schowkwa, der sich im Präsidentenbüro mit der Frage der Feiertage beschäftigt, sagt: »Die Philosophie dahinter ist, in der Ukraine eine multikonfessionelle, tolerante Gesellschaft offener Art aufzubauen.« Nach Jahrzehnten der Atheismus-Dominanz in der Sowjetunion sei es endlich an der Zeit, Religion mit genauso viel Respekt zu behandeln, wie es in der Europäischen Union üblich ist, denn grundsätzlich orientiere man sich ja in Richtung Westen.
Es gab kaum öffentliche Kritik an dem Präsidentenerlass, und sogar die Nationalisten blieben eher still, aber in den sozialen Netzwerken wird gestritten.
Die ukrainische Mehrheitsgesellschaft teilt diese Ansicht nicht ganz. Zwar gab es kaum öffentliche Kritik an dem Präsidentenerlass, und sogar die Nationalisten blieben eher still, aber in den sozialen Netzwerken wird gestritten.
So überwiegen auf der Facebook-Seite des Präsidentenbüros unter dem Post, der von einem Treffen von Ihor Schowkwa mit dem Oberrabbiner berichtet, ablehnende Kommentare über den Erlass des Präsidenten: »Das gibt es nur bei uns. In der Ukraine leben 0,2 Prozent Juden, an der Macht liegt die Quote bei 90 Prozent. Das ist unsere Toleranz«, schrieb etwa die Nutzerin Wiktorija Minajlowa aus Tscherkassy, der Hauptstadt des Regierungsbezirks, zu dem Uman gehört. Und der Kiewer Stanyslaw Afonin fragt in seinem Kommentar: »Gibt es denn in Israel staatliche ukrainische Feiertage? Warum machen wir das?«
Corona Auch wenn in der Ukraine Rosch Haschana ab diesem Jahr ein nationaler Feiertag sein wird, ist es Juden trotzdem nur schwer möglich, zum Grab von Rabbi Nachman zu pilgern. Denn das Land registriert zurzeit mehrmals pro Woche Rekordzahlen mit stets mehr als 3000 Infizierten pro Tag. Und in Israel, wo Tausende eine Reise planten, liegen die Zahlen derzeit bei mehr als 2600 Infizierten pro Tag.
Wegen der Pandemie war von Anfang an klar, dass die Pilgerfahrt nach Uman diesmal nicht genauso wie in anderen Jahren stattfinden kann. Noch im Juli entschied das ukrainische Außenministerium, dass die Ankunft von Zehntausenden Juden nach Uman diesmal unmöglich ist. Die Regierung wurde gebeten, religiöse Veranstaltungen verstärkt einzuschränken.
Doch wochenlang tat sich wenig. Allerdings äußerten sowohl das israelische Außenministerium als auch das ukrainische Zentrum für den Kampf gegen das Coronavirus zunehmend ihre Sorgen wegen der möglichen Folgen des Massenpilgerns – sowohl für Israel als auch für die Ukraine. Schließlich rieten die Außenministerien beider Länder davon ab, nach Uman zu reisen.
checkpoints In den vergangenen Jahren kamen um Rosch Haschana jedes Mal mindestens 30.000 Juden nach Uman. Einige reisten bereits deutlich früher an. So auch in diesem Jahr. Schon Mitte August trafen die ersten Chassiden ein – trotz aller Beschränkungen, was den Bürgermeister von Uman, Olexander Zebrij, sehr empörte. Er fuhr nach Kiew zum Büro des Präsidenten und drohte damit, Checkpoints an den Einfahrten in die Stadt einzurichten.
Ende August traf sich Selenskyj dann schließlich mit Vertretern jüdischer Organisationen und bat sie, in den Gemeinden auf die aktuelle Entwicklung der Corona-Pandemie aufmerksam zu machen.
Wenige Tage später schloss die Ukraine für einen Monat die Grenzen für alle Ausländer. Offizieller Grund ist die Corona-Lage, doch viele vermuten, dass mit diesem Schritt vor allem die Einreise Tausender Chassidim aus Israel und den USA verhindert werden soll.
flughäfen An den internationalen Flughäfen des Landes wurden in den Tagen vor der Grenzschließung Juden gezielt abgewiesen, ohne dass ihnen ein konkreter Grund genannt wurde.
»Wir waren schockiert, als die Regierung die Entscheidung über den Einreisestopp traf«, sagte Oberrabbiner Reuwen Asman dem unabhängigen Sender Hromadske. »Denn bei unserem Treffen mit dem Präsidenten wurde das nicht angesprochen.«
Für Pilger, die mit Covid-19 infiziert sind, wurde in Uman ein spezielles Krankenhaus eingerichtet.
Anfang dieser Woche blockierten Hunderte Chassiden, die trotz der Corona-Beschränkungen zu einer Pilgerreise aufgebrochen waren, den Grenzübergang Nowi Jarylowytschi zwischen Weißrussland und der Ukraine, nachdem die Beamten sie nicht hatten einreisen lassen. Wie ukrainische Grenzschutzbeamte gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters sagten, seien auch Kinder darunter gewesen. »Sie sangen Lieder, und einige tanzten.«
Schutzzäune Das ukrainische Innenministerium hatte am Wochenende bekannt gegeben, dass in diesem Jahr über Rosch Haschana rund 3000 Chassiden in Uman sein werden. Alle Pilger, die vor dem Einreisestopp in der Ukraine eintrafen, hätten sich einem Corona-Test unterziehen müssen.
Doch ganz ohne Probleme läuft es auch vor Ort nicht ab. So wurden Schutzzäune zerstört, die wegen Corona am Grab von Rabbi Nachman installiert sind. Ein Video, das Mitte vergangener Woche im Internet kursierte, zeigt, wie Pilger die Metallkonstruktion lockern und anschließend abreisen.
Laut der ukrainischen Migrationsbehörde muss ein 35-jähriger israelischer Staatsbürger die Ukraine verlassen und darf drei Jahre lang nicht einreisen. Doch kann er noch bis zum 25. September im Land bleiben – das heißt, Rosch Haschana wird er in Uman verbringen.
Für Pilger, die mit Covid-19 infiziert sind, wurde in Uman ein spezielles Krankenhaus eingerichtet. Bis vergangene Woche waren sechs Chassiden positiv auf das Coronavirus getestet worden. Alle haben einen leichten Krankheitsverlauf und werden in einem Hotel isoliert.