Hätte Matthias Rust sich entschlossen, seine illegale Landung nahe dem Roten Platz Anfang August 2010 zu wiederholen, hätte er den Landeplatz wohl nicht erkennen können – der Smog, der den Roten Platz und die Brücke über dem Fluss einhüllte, war so dicht, dass man den Kreml selbst aus einer Entfernung von 100 Metern kaum sehen konnte. »Schaut euch das an!« Ich kopiere den YouTube-Videolink in das Chat-Fenster für Freunde und Verwandte in Boston und Jerusalem. Die Bilder von dem fahlen Leichentuch, das die Wahrzeichen Moskaus einhüllte, waren in der Tat erschreckend. Die Reaktionen lauteten fast alle gleich: »Geh so schnell wie möglich von dort weg! Du musst Moskau sofort verlassen!« Die Botschaft ist jedem russischen Juden nur allzu sehr vertraut – als wir aufwuchsen, war die Option auf Auswanderung stets Teil unserer Wirklichkeit: als endgültige Lösung für all die Zorres des Lebens im Russland: Instabilität, Korruption, immanente Gewalt, Antisemitismus. Aber funktioniert das heute noch?
Aschegeruch Jene russischen Juden, die sich dafür entschieden, in Moskau – der Hauptstadt des Roten Pharaos, wie man es nannte – zu bleiben, sind keineswegs immun gegen die modernen Seuchen, die dazu führten, dass heute dieser apokalyptische Aschengeruch in der Luft liegt. Die Wohnungen sind sehr gut ausgestattet, um die Temperaturen im Minusbereich zu überstehen, eine Kälte wohlgemerkt, die bis zu einem halben Jahr andauern kann. Doch Kühlsysteme, von Luftfiltern ganz zu schweigen, sind rar. In diesem Sommer wurden schlichte Ventilatoren in den großen Haushaltswarengeschäften schnell zur Mangelware; der Preis kletterte auf annähernd 200 Euro für einen einfachen Lüfter und auf bis zu 3.000 Euro für eine anspruchsvolle Klimaanlage. Und auch wenn man Glück hat und eine Klimaanlage ergattert, braucht man mit einem Einbautermin vor Mitte Herbst nicht zu rechnen.
Das makaberste Symbol für die Hitzewelle war vielleicht der Mangel an Kühlschränken in den Leichenhallen und die Menschenschlangen auf den Friedhöfen. Genaue Zahlen gibt es nicht, doch scheint der »jüdische Anteil« an der hohen Zahl der Opfer, die aufgrund die gr0ße Hitze und furchtbaren Wetterbedingungen starben, besonders hoch zu sein. Die Koordinatorin von Einsätzen und Projekten des Joint Distribution Committee (JDC) in Moskau, Anne Kaller, 23, berichtete, es habe mehrere Tage gedauert, bis ihrem jüdischen Freund geholfen wurde, die Beerdigung seines Großvaters zu organisieren. Der Großvater war verschieden, als die Sommerhitze und des Smog am schlimmsten waren. Die Aussichten, das Begräbnis in Übereinstimmung mit den jüdischen Vorschriften zu arrangieren, waren gleich null. Selbst die simple Aufgabe, den Totenschein zu besorgen, hieß, den ganzen Tag Schlange zu stehen, so viele Menschen, die Angehörige oder Freunde verloren hatten, standen an.
Gebot Doch dieser extreme Moskauer Sommer bedeute für einige junge Juden auch die Möglichkeit, das jüdische Gebot zu beherzigen, das besagt, dass man Menschen in Not helfen soll. Die größte städtische Jüdische Gemeinde in Osteuropa zählt etwa 100.000 Menschen. Die Hälfte davon ist über 65 Jahre alt; viele leben allein und sind verarmt. Auf rund zehn Juden im Rentenalter kommt ein einziger, der jünger als 30 Jahre alt ist. Diese statistischen Fakten sind der Grund dafür, dass das JDC und zahlreiche andere jüdische Wohltätigkeitsorganisationen hier besonders aktiv sind. Vergangene Woche brachte eine Initiative des JDC etwa 40 junge Leute für gemeinnützige Aufgaben zusammen, die unter anderem über Facebook und Programme zur Förderung der Führungsqualitäten von jungen Juden wie die Moskauer Hillel-Organisation rekrutiert wurden.
Nach Angaben des JDC, statteten die jungen Menschen in über 900 Fällen Besuche bei allein lebenden Senioren ab, brachten dringend notwendige Hilfe wie extra Lebensmittel, Trinkwasser und Medikamente und halfen beim Saubermachen der Wohnung. »Der Qualm auf den Straßen erlaubt den Menschen nicht, zur Suppenküche oder zum Gemeindezentrum zu gehen. Deshalb ist die Hilfe der Freiwilligen so dringend«, erläutert Anna, die das Projekt für das JDC koordiniert. Manchmal ist es aber einfach bloß wichtig, mit den alten Menschen zu reden, die in ihren Wohnungen eingesperrt sind, fügt sie hinzu.
Klimaanlage Roman (28), der eine qualifizierte Ausbildung hat und für eine westliche Firma in Moskau arbeitet, gehört zu denen, die sich als Freiwilliger gemeldet haben. »Ich mag heiße Sommer«, erklärt er, »und für junge Leute ist die derzeitige Situation in Moskau weniger schlimm.« Roman beschloss, jemandem in seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu helfen: einem 78-jährigen Mann, dem schwindlig wurde, als er das Haus verließ, um im nächstliegenden Geschäft Lebensmittel einzukaufen. Den Einkauf erledigte Roman für ihn, dessen Auto über eine Klimaanlage verfügt. Er wird dem Senior auch in Zukunft zur Seite stehen. Für Roman ist die Hilfe für ältere Menschen Teil seiner religiösen Überzeugungen. Er isst zu Hause koscher, begeht die wichtigsten Feiertage und lässt am Schabbat das Auto stehen. Doch er nennt noch andere Beweggründe: »Ich mache da eigentlich keine Unterschiede. Gewiss geht es um Mitzwot, aber es gehört auch zu den Familienwerten, die mein Vater und meine Mutter mich lehrten: Denjenigen zu helfen, die in Not sind – ist das nicht für uns alle selbstverständlich?«
Warum den Juden helfen und nicht anderen? »Ich habe mich so entschieden«, sagt er. »Ich fühle mich der Generation meiner Oma verbunden. Ich bin einer von ihnen, und das gibt mir ein Gefühl der Zugehörigkeit und Verantwortung. Ob ich glaube, dass ich hier in Russland eine Zukunft habe? Nein. Aber solange meine Familie mich braucht, werde ich hierbleiben.« Diesen Sommer brachte einen weiteren guten Grund für einen russischen Juden, auszuwandern. In einer Welt, die zunehmend kleiner und unsicherer wird, bleibt die Frage nach der Verantwortung eine Herausforderung für uns alle.