Feiertag

Putzen, Plagen, Playmobil

Es ist eine neue Pessach-Tradition: Bei vielen Familien ziert ein Heer von Playmobil-Figuren den Tisch, was den Auszug aus Ägypten abbilden soll. Moses und sein Volk, gesäumt von blauem Seidenpapier, laufen in Plastikminiatur der Mazza als Protagonistin des Sederabends den Rang ab. Seit Kurzem geht dieser Brauch in den sozialen Medien viral und sorgt mit dem schönen Blau des sich spaltenden Meeres für coole Fotos und Hashtags.

Es ist kaum zufällig, dass sich an Pessach immer wieder neue Traditionen etablieren. Der Festbeginn resultiert aus dem Ablauf und der steten Wiederholung. So ist der Abend durchdrungen von Symbolik und Ritualen, die an die jahrtausendealte Geschichte erinnern, die davon erzählt, wie sich die Juden aus der Knechtschaft des Pharaos befreiten. Es sind die klare Dramaturgie des Abends – die Haggada gibt das Drehbuch vor – und die symbolischen Speisen, die verdeutlichen sollen, wie bezeichnend Freiheit ist und welche Bedeutung sie für Juden auf der ganzen Welt hat. Jährlich kommen die gleichen Speisen auf den Tisch, um die Erinnerung im kollektiv-jüdischen Gedächtnis hervorzurufen.

Klare Dramaturgie und symbolische Speisen

Im Zentrum steht die Pessachgeschichte. Einige lesen daraus vor – oder sie verfassen eine eigene Version wie Daniel Zylbersztajn-Lewandowski. Der Londoner Journalist, der auch für diese Zeitung schreibt, hat damit für sich und seine Familie eine neue Tradition geschaffen, wie er erzählt: »Neben Chametz-Jagd und dem obligaten Einkauf im koscheren Supermarkt oder dem Sederabend in der Masorti-Synagoge gibt es bei uns zu Hause Besonderheiten. Jedes Jahr erstelle ich entweder eine neue oder ändere eine von mir in den Vorjahren verfasste Haggada ab.«

Vielleicht sei es, weil er Journalist sei und über die Jahre auch die verschiedensten jüdischen Ausrichtungen erleben durfte, aber sicher auch, weil »von vornherein Pessach und die Erinnerung an die Befreiung aus der Versklavung in unserer Familie eine über die jüdische Geschichte hinaus erweiterte Rolle« spiele.

Zylbersztajn-Lewandowskis Frau hat einen Familienhintergrund, der teils mit der Versklavung von afrikanischen Menschen in der Karibik und den USA verbunden ist. »Unsere von mir verfasste Haggada richtet sich deshalb auch auf die Befreiung aus der Versklavung ihrer Vorfahren.« Aktuelle politische Themen wie Diskriminierung, Einwanderung oder die Lage in Israel können sich darin ebenfalls wiederfinden.

Herzstück des Sederabends

Die Haggada ist das Herzstück des Sederabends. Unabhängig davon, in welche Sprache die Erzählung übersetzt wurde – es ist die Sprache selbst, die Rituale und ihre festen Bestandteile dazu schafft. Auch für Bob Yard (Name von der Red. geändert), der in England gelebt hat, steht die Haggada im Zentrum. Es sei ihrer darin erhaltenen Geschichte zu verdanken, dass die Tradition überhaupt überlebt hat, ist der 80-Jährige überzeugt.

Viele lesen die Pessachgeschichte – andere schreiben sie neu.

»Durch die immer gleiche Erzählung festigt sich erst die Tradition.« Die Erzählung, die Fragen und die Sprache in der Haggada würden es möglich machen, dass auch Kinder an dieser Tradition teilnehmen und sie vielleicht weitergeben. Jede Familie habe ihre eigenen Haggadot. Der Großvater liest mit seiner Familie aus jener Haggada, die er früher selbst noch in seinem Elternhaus hatte. »Auf Seite 27, genau dort, wo die Rede vom Pessachopfer ist, steht ›M.C.‹. Das ist die Abkürzung für ›Mom Cooking‹. Das hat weder mit dem Pessachopfer zu tun noch darf es zu traditionalistisch verstanden werden. Es war lediglich der pragmatische Hinweis für unsere Familie, dass an der Stelle meine Mutter irgendwann den Tisch kurz verlassen hatte, um nach der Suppe zu sehen. Schließlich sollte die Suppe in wenigen Augenblicken heiß gegessen werden.«

Seine mittlerweile erwachsene Tochter fragte ihn, als sie noch im Teenager-Alter war, irgendwann einmal, was diese beiden Buchstaben bedeuten. »Von da an löste sich für sie ein jahrelanges Pessach-Rätsel. Und ja, wir unterbrechen noch immer bei ›M.C.‹, weil kurz danach die Suppe kommt.«

Die Speisen an Pessach sind mit Traditionen verbunden, ganz besonders die Suppe, die in fast allen Familien als erster Gang serviert wird. So erzählt auch György Polgár, Autor dieser Zeitung aus Budapest, wie die Suppe die Familie vereinte und die Kinder erfreute: »Pessach und Ostern fallen oft auf dieselbe Zeit. Wie bei den meisten osteuropäischen assimilierten Familien hatte zwar der religiöse Aspekt dieses christlichen Festes bei uns nicht die geringste Bedeutung, aber der Osterhase besuchte auch meine kleinen Kinder. Das war allemal ein Anlass für ein Familientreffen bei meinen Eltern.«

Polgárs Mutter habe immer dafür gesorgt, dass Pessach zumindest ansatzweise präsent war. »Es gab zwar keinen Sederteller, aber an Ostern gab es als Vorspeise unter anderem Chaseret, Karpas und Maror. Und als Nächstes eine Fleischsuppe mit Mazzeknödeln. Als die Suppenterrine auf den Tisch kam, begrüßten sie meine Kinder jedes Mal mit überschwänglicher Begeisterung: »Endlich wieder Osterhasenklößchen!«

»Endlich wieder Osterhasenklößchen!«

Zur Mazzeknödelsuppe hat jede Familie ihr eigenes Verhältnis – genauso wie zu Gefilte Fisch. So erzählt eine Frau aus Zürich, die ihren Namen ebenfalls nicht in der Zeitung lesen will, wie sie im Andenken an ihre verstorbene Mutter Gefilte Fisch für den Sederabend vorbereitet. »Es ist nicht so, dass dieses Essen jemand in meiner Familie wirklich mag, aber ich tue es für meine Mutter. Die Tradition soll weitergehen.« Das ist für die Religionslehrerin wichtig.

Speziell Pessach würde sie an ihre eigene Kindheit erinnern. So fällt ihr beim Putzen immer wieder ein, wie ihre Großmutter jeweils das Pessach-Geschirr hervorholte. »Es war schon fast ein Ritual, das Auswickeln dieses Geschirrs aus dem Zeitungspapier. Es war dieser Moment, dass Pessach unmittelbar bevorstand.« Ganz viele Dinge an Pessach verbindet die 61-Jährige mit früher: »Aus diesem Grund war es mir auch wichtig, dass wir Pessach zu Hause feierten. Damit die Kinder ein Gefühl dafür bekommen, was Pessach vom normalen Alltag unterscheidet und warum wir Traditionen leben.«

An Traditionen haften Erinnerungen. So ist das Putzen an Pessach an eine Erinnerung gekoppelt, die bei Dalia Abaiov stark in die Kindheit zurückgeht und bis heute in ihr nachhallt. »Meine Eltern nahmen das Putzen sehr ernst, und mein Bruder und ich waren in die Familienarbeit involviert«, erzählt die Israelin. »Wir arbeiteten uns von Zimmer zu Zimmer durch. Das große Finale war die Küche. Am Kinderzimmer kamen wir nicht vorbei«, erzählt die heute 41-Jährige, die mit ihrer Familie in Kfar Saba wohnt.

Zu Mazzeknödelsuppe und Gefilte Fisch hat jede Familie ihr eigenes Verhältnis.

Es sei aber nicht nur darum gegangen, jeden Brotkrümel aufzuspüren, der sich vielleicht noch unter dem Bett versteckt hatte. »Sondern wir lasen Spielsachen aus, durften selbst entscheiden, was wir behalten und weggeben wollten.«

Diese Form des Aussortierens und damit neue Ordnung zu schaffen, sei befreiend gewesen, sagt die dreifache Mutter und Elternberaterin. »Das spürte ich als Kind noch nicht so stark. Heute dafür umso mehr.« Sie putze nach wie vor an Pessach, wenn auch nicht mehr so intensiv wie ihre Eltern. Doch was sie von damals ins Erwachsenenleben mitgenommen habe: »Wenn ich etwas nicht mehr brauche, selbst wenn es nur eine Vorstellung ist, dann löse ich mich davon.« Es gelinge ihr nicht immer.

Jemand, der erst spät, im Erwachsenenalter, zur Sedertradition fand, ist Edina Wéber. »Ich wuchs in einer assimilierten Familie im ländlichen Ungarn der 80er-Jahre auf. Meine einzige Verbindung zum Judentum, abgesehen von den lebenslangen Albträumen meiner Großeltern, die den Holocaust überlebt hatten, bestand darin, dass meine Großmutter mich einmal im Jahr mitnahm, damit wir Mazzen besorgen.«

Wéber nennt den eigenen Familienseder »Speed-Seder«

Edina Wéber hatte als Kind keine Ahnung, worum es ging. »Wir haben zu Hause nie einen Sederabend gefeiert, aber ich liebte es, in den Hallen des Gemeindehauses herumzulaufen.« Erst Jahre später begann sie, Sederabende zu besuchen oder selbst zu leiten. »Es waren lange Abende, an denen die Anforderungen erfüllt wurden. Heute nennt Wéber den eigenen Familienseder ›Speed-Seder‹, um den stundenlangen Seder zu ersetzen. »Wir erfüllen die Mizwot für den Abend, aber wir beschleunigen einige Teile oder erwähnen sie einfach und singen dafür Lieder. Die sind für die Kinder interessant.«

Um Kinder mit den Traditionen an Pessach jenseits von Mazza und dem Fragenstellen vertraut zu machen, sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Um den Abend für die Kinder unterhaltsam zu gestalten, haben sich Malki Batyrev, die Geschäftsführerin des Bundes traditioneller Juden in Deutschland, und ihr Mann etwas einfallen lassen. Das junge Paar aus Berlin programmiert jeweils vor den Feiertagen farbige Glühbirnen, was für ›Special effects‹ am Sederabend sorgt, wie Batyrev erzählt: »Die Lampe ändert zu einer bestimmten Zeit die Farbe. Daran halten wir uns dann, wenn wir von den zehn Plagen lesen. Das heißt, bei Blut sind die Lichter rot, bei Fröschen grün, bei Hagel gehen die Lichter an und aus, und bei Dunkelheit geht das Licht ganz aus und dann eine Minute später wieder an.«

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Putzen, pünktlich Suppe essen, eigene Haggadot schreiben oder Special effects – wer Pessach feiert, hat sich für Tradition, aber auch für Innovation entschieden. Vermutlich ist es genau diesem Zusammenspiel zu verdanken, dass das Fest auch über die nächsten Generationen fortbestehen kann.

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