Eine breite Treppe führt von der Ringstraße hinauf zum alten Kern von Carpentras, einem Städtchen südlich des Mont Ventoux in der Provence. Hier ist es angenehm ruhig. Im Zentrum liegt die Place Maurice Charretier mit dem Rathaus sowie ein paar unprätentiöse Cafés und Restaurants. Am Rand steht ein hellgraues, zwischen zwei andere Gebäude geducktes und in ein Eck gedrängtes Haus. Wer es nicht weiß, geht sehr wahrscheinlich daran vorbei, ohne es zu beachten – dabei ist es die älteste Synagoge Frankreichs.
Carpentras war einst Hauptstadt des Comtat Venaissin, das vom 13. Jahrhundert bis zur Französischen Revolution im päpstlichen Besitz war. 1305 wurde dann zum ersten Mal ein Franzose zum Papst gewählt, der zudem seinen Sitz vom Tiber an die Rhône verlegte. Bevor mit dem Bau des Papstpalastes in Avignon begonnen wurde, war von 1306 bis 1309 Carpentras die Residenz. Sieben Päpste in Folge regierten im südlichen Rhônetal. Wegen seiner Asylpolitik wurde der Kirchenstaat für die aus den angrenzenden Gebieten vertriebenen Juden immer wieder zum Zufluchtsort – man sprach von »les juifs du pape«, den Juden des Papstes. Allerdings war der Schutz nicht durchgängig.
Ghetto Über Jahrhunderte gab es in Carpentras – mit Unterbrechungen – eine jüdische Gemeinde. Die Synagoge ist bereits 1367 urkundlich belegt. In den Jahren 1741 bis 1743 wurde sie im Stil des Rokoko restauriert. Bevor die Häuser gegenüber abgerissen wurden, stand sie im Zentrum des Ghettos.
Über eine große Treppe geht es hinauf zum Betsaal. Welch ein Unterschied zum unscheinbaren Äußeren! Hier drinnen summt es fast vor Heiterkeit, ist es bunt, glitzernd, leicht: Lüster und Leuchter verschiedener Art schmücken den Raum ebenso wie ornamentale Wandmalereien. Durch die teilweise bunten Fenster flutet angenehm viel Licht.
Das Schöne an all dem: Dieser uralte Versammlungsort ist kein Museum. Nach dem Holocaust hat sich in Carpentras wieder eine jüdische Gemeinde zusammengefunden, die die Synagoge ständig nutzt. »Wir sind etwa 150 Leute aus Carpentras, Orange und der Umgebung«, sagt Meyer Benzecrit. Er ist Zahnarzt und seit Kurzem Vorsitzender der Gemeinde. Die setzt sich vorwiegend aus der mittleren und älteren Generation zusammen, weil, wie Benzecrit sagt, »die Jungen meist zum Studieren nach Montpellier oder Marseille gehen«. Für einen Rabbiner ist die Gemeinde zu klein, doch findet nach Möglichkeit jeden Schabbat ein Gottesdienst statt. Und seit 1999 lädt die kleine Communauté jeden Sommer zu einem internationalen Festival jüdischer Musik, diesmal war es Anfang August.
Mikwe Nur wenige Kilometer südlich von Carpentras liegt Pernes-les-Fontaines. In der kleinen Stadt gibt es eine Place de la Juiverie. Viel mehr als eine private Mikwe aus dem 16. Jahrhundert ist an jüdischen Spuren aber nicht zu entdecken. Weiter also in das noch einmal gut zehn Kilometer entfernte L’Isle-sur-la-Sorgue, der Insel über dem Flüsschen Sorgue. Der Ort ist von zwei kräftig strömenden Armen der Sorgue umfasst und ganz und gar durchzogen von Kanälen – es ist das »Venedig der Provence«, heißt es. Im Zentrum steht die Kirche Notre-Dame-des-Anges. Das schmiedeeiserne Geländer im Inneren stammt von der ehemaligen Synagoge. In der Nähe der Kirche befand sich früher das Quartier juif, das jüdische Viertel. Vor der Synagoge lassen sich am Rand eines Geländes, das heute als Parkplatz genutzt wird, noch ein paar übrig gebliebene Steine entdecken.
Mit der Broschüre Histoire et Patrimoine Juif en Provence will das provenzalische Fremdenverkehrsamt Touristen auf eine Route locken, an der 13 Städte und Dörfer mit jüdischer Vergangenheit und teilweise auch Gegenwart liegen. Weiter geht es nach Les Milles, einem Dorf außerhalb von Aix-en-Provence. Im September 2012 wurde hier die Gedenkstätte »Camp des Milles« eröffnet. Ab Ende der 30er-Jahre internierte man hier zuerst »feindliche Ausländer«, später wurde der Ort zu einem Sammellager. Die Nazis deportierten 1942 rund 2000 Juden von Les Milles nach Auschwitz.
»Jedes Jahr kommen ungefähr 100.000 Besucher zu uns«, sagt der Historiker Alain Chouraqui. Vor allem auf seine Initiative hin wurde die Gedenkstätte so gestaltet, dass man versteht, was hier geschah. Chouraqui hat »Camp des Milles« zu einem Ort der intellektuellen Auseinandersetzung gemacht. »Die Geschichte der Schoa«, sagt Chouraqui, »ist ein starker Indikator für eine fehlgeleitete Moderne.«
Kaschrut Der Gedenkstättenchef empfiehlt jüdischen Touristen, unbedingt auch Marseille zu besuchen, die alte Hafenmetropole mit ihren 44 Synagogen und einer großen jüdischen Gemeinde von rund 75.000 Mitgliedern. In der »JudaiCité«, dem jüdischen Kulturzentrum in Marseille, schwärmt Michêle Teboul, die Präsidentin der regionalen jüdischen Dachorganisation CRIF (Conseil Représentatif des Institutions Juives de France) von den zahlreichen Kaschrut-Adressen: von Restaurants, Traiteurs, Bäckereien, Konditoreien, Feinkostläden. In Marseille kann man nicht nur provenzalisch essen, sondern auch algerisch, tunesisch, marokkanisch, israelisch oder italienisch. »Das ist Marseille«, sagt Teboul, »alle Kulturen und Küchen des Mittelmeers an einem Ort.«