Die Küche ist voller Mäuse. Sogar während der Mahlzeiten laufen sie über den Esstisch.» Ein anderes Schreiben berichtet von einem Flüchtling, den die Ratteninvasion in seiner Wohnung an die Gefängnisräume erinnert, in denen er einst gefoltert wurde.
Diese Berichte über britische Flüchtlingsbehausungen wurden kürzlich einem parlamentarischen Sonderausschuss vorgestellt. In vielen Unterkünften, hieß es da, gebe es Mäuse, Ratten, Läuse und anderes Ungeziefer. Die Vorsitzende des Komitees, Yvette Cooper, nannte dies eine «Schande».
Druck Es war intensiver öffentlicher Druck nötig. Trotz steigender Flüchtlingszahlen während der vergangenen Jahre hat sich Großbritannien nur zögernd der Verantwortung gestellt: Das Königreich ist bereit, über einen Zeitraum von fünf Jahren 20.000 Menschen aufzunehmen.
Und obwohl es eine vergleichsweise geringe Zahl ist, scheint man kaum Mittel für die Flüchtlinge bereitzustellen. So hat zum Beispiel der Londoner Stadtbezirk Lambeth bisher lediglich fünf Flüchtlinge aufgenommen, obwohl er die Aufnahme von 20 zugesagt hatte. Ein Hauptprobleme scheint der Mangel an Sozialwohnungen zu sein. Und nicht nur das, die Londoner Preise erlauben wenig Spielraum, um neue Wohnungen zu schaffen.
Seit einiger Zeit sind die Mitglieder der in Lambeth ansässigen South London Liberal Synagogue um die Flüchtlinge besorgt. Als ihre letzte Rabbinerin, Janet Darley, in den Ruhestand ging, bat sie die Gemeinde, ihr zu versprechen, sich für Flüchtlinge einzusetzen. Dass sie das Versprechen einhalten würden, war für viele Gemeindemitglieder eine Selbstverständlichkeit, denn die meisten kommen selbst aus Flüchtlingsfamilien. Die derzeitige Gemeindevorsitzende Alice Alphandary (31) – sie stammt aus Ägypten – geht mit gutem Beispiel voran: Sie engagiert sich seit einigen Jahren als Freiwillige in einem Kennenlernprogramm für Flüchtlinge und Asylbewerber.
instandhaltung Seit 1929 nutzt die Gemeinde mit ihren 220 Mitgliedern eine umgebaute Schule aus Viktorianischer Zeit als Synagoge. Doch die Instandhaltung des großen dreistöckigen Gebäudes mitsamt einer nahezu unbenutzten Hausmeisterwohnung wurde für die schrumpfende Gemeinde immer mehr zum Problem. «Wir haben darüber nachgedacht, das Gebäude an ein Bauunternehmen zu verkaufen», sagt Gemeindemitglied James Krikler (45).
Doch als man davon hörte, dass Flüchtlinge in Lambeth nicht aufgenommen werden können, weil es an Sozialwohnungen mangelt, kam den Gemeindemitgliedern eine Idee: Statt das Synagogengebäude, in dem sich die Gemeinde bis heute versammelt, zu verkaufen, könnte man mit den nicht benötigten Räumen Gutes tun und die dann etwas kleinere Synagoge gleichzeitig am Leben halten.
James Krikler und seine Frau, beide Architekten, hatten die Idee, die alte, zum Teil marode Hausmeisterwohnung, die zuletzt vor 40 Jahren genutzt wurde, zu einer Dreizimmerwohnung für Flüchtlinge umzubauen. Eine syrische Familie könnte hier in Würde und ohne Ratten leben. Es war ein Vorschlag, der alle sofort begeisterte. Man gründete ein Planungskomitee – und siehe da, erzählt Gemeindechefin Alphandary, «sogar Mitglieder, die sich 20 Jahre nicht hatten blicken lassen, tauchten plötzlich mit Enthusiasmus für dieses Projekt auf». Auch Beverly Taylor (84), die seit mehr als 60 Jahren Mitglied der Synagoge ist, will trotz ihres Alters helfen.
Harriet Neuberger (37), Tochter einer früheren Rabbinerin der Gemeinde, legt dar, dass es zur jüdischen Philosophie gehört, Fremde bei sich aufzunehmen. «Zu biblischen Zeiten gab es stets ein Zelt für Fremde und Besucher.» Aus diesem Grund erhielt das Projekt den Namen «Abrahams Zelt».
Schrott Durch eine Doppeltür geht es von der Mehrzweckhalle unter der Synagoge eine alte Treppe hinauf in die Wohnung, wo all das geschehen soll. Das Badezimmer sieht aus, als hätte es hier ein Erdbeben gegeben, überall liegt Schrott verstreut. Trotzdem erzählt Krikler aufgeregt, wie man das alles erneuern kann: «Der neue Eingang in die Wohnung wird hier durch das alte Schlafzimmer gehen, da, wo heute der Einbauschrank steht.»
Das Zimmer nebenan wird zurzeit gelegentlich als Lehrraum genutzt. An der Wand hängen das hebräische Alphabet und eine Landkarte Israels. «Hier hinten bauen wir eine offene Küche, und da drüben vielleicht noch ein extra Zimmer», fährt Krikler fort. Doch mit guten Plänen allein ist es nicht getan. Um das Projekt zu verwirklichen, muss die Gemeinde mindestens 50.000 Pfund aufbringen. Ganz aus eigenen Kräften kann sie solche Kosten unmöglich tragen. Also beschloss man, eine Spendenaktion zu starten.
Journalisten erfuhren noch vor dem offiziellen Beginn des Projekts davon, und die Nachricht «von der Synagoge, die Platz für muslimische Flüchtlinge machen will», breitete sich wie ein Lauffeuer aus. Harriet Neuberger musste Hals über Kopf eine Spendenseite für den Internetauftritt der Gemeinde kreieren. Und kaum war sie fertig, gingen schon die ersten Beträge ein.
Umbau Was als Nächstes passieren wird, darüber halten sich die Mitglieder bedeckt. Sie sehen es pragmatisch: Wenn sie nur einen Teil des Betrages, etwa 30.000 Pfund, zusammenbekommen, werden sie beim Umbau mithelfen müssen. Gemeindemitglieder werden die Wände streichen oder Schränke einbauen, meint Krikler. Sollte mehr als die angepeilten 50.000 Pfund zusammenkommen, ließen sich bestimmt Wege finden, die Wohnung zu verbessern. Und unter Umständen, bei ganz großen Spenden – aber daran glaubt bisher keiner – könnte man sogar an eine zweite Wohnung denken.
Am vergangenen Schabbat nach dem Gottesdienst wurde die Kampagne für die Wohnung offiziell gestartet. In einem Jahr soll alles fertig sein.