USA

Pragmatisch in der Krise

Austin im Bundesstaat Texas: Eine jüdische Familie nimmt an einem »Zoom«-Gebet teil. Foto: imago images/ZUMA Wire

Der neunte Tag des jüdischen Monats Aw, Tischa beAw – dieses Jahr Donnerstag, der 30. Juli –, ist der traurigste aller jüdischen Feiertage und der zweitwichtigste Fastentag nach Jom Kippur. Die Stimmung dürfte im Kalenderjahr 2020 noch ein wenig gedeckter sein als sonst.

Oder wie es der bekannte Rabbiner Jack Riemer aus Florida formuliert: »Nachdem die Tempel zerstört wurden, haben wir neue Formen des Gottesdienstes entwickelt. Heute gibt es Toralernen online, und wir tätigen sogar Schiwa-Anrufe über das Netz. Wenn das Virus in Bewegung sein kann, kann jüdisches Leben auch in Bewegung sein.« So zitiert das »Jewish News Syndicate« (JNS) den 91 Jahre alten Reformrabbi aus dem Corona-Hotspot Boca Raton.

Fasten Denn neben dem üblichen Trauern, dem Fasten und dem Lesen der Echa, der Klagelieder Jeremias, ist das Zusammensein ein wichtiger Bestandteil dieses Feiertages. Und mit Zusammensein ist das so eine Sache in Corona-Zeiten – auch und gerade in den USA, in denen nicht hinreichend konsequente Maßnahmen und das Chaos föderaler, regionaler und lokaler Verordnungen zu traurigen Rekorden an Erkrankungen und Todesfällen geführt haben.

Gottesdienste und Gruppenlesungen der Echa gibt es praktisch nicht – und wenn, dann finden sie draußen statt, auf ein Minimum reduziert und unter dem Einsatz sozialer Distanz und Masken.

Synagogen in den USA bleiben wohl bis nach den Hohen Feiertagen geschlossen.

Zudem wurden Risikogruppen und ältere Menschen eindringlich vor dem Fasten gewarnt. Ein Tag ohne Flüssigkeit (es gelten dieselben Regeln wie an Jom Kippur) könnte ihre ohnehin angeschlagenen Immunsysteme nachhaltig gefährden.

In Zeiten, in denen täglich um die 70.000 Neuinfektionen bei gleichzeitiger kompletter Abwesenheit politischer Führung die Vereinigten Staaten bis in deren Grundfesten erschüttern, ist kaum mehr Raum für religiöse Massentreffen. Zumal Charedim, christliche Pfingstgemeindler und andere religiöse Gruppen durch demonstrative Massenhochzeiten oder Großveranstaltungen den Infektionsverlauf deutlich zu ihren eigenen und zu den Ungunsten der gesamten Nation beeinflusst haben.

Derzeit sieht es so aus, als ob die Synagogen landesweit bis mindestens nach den Hohen Feiertagen geschlossen blieben. Das trifft nicht nur das gewohnte Feiertagsleben hart – auch der amerikanische Brauch, für seine Gemeinde zu spenden, kommt durch die ausbleibenden Synagogenbesucher praktisch zum Erliegen.

SPENDEN Denn wo keine Menschenansammlung ist, sitzt das Spendengeld, das für viele kleine und große US-Gemeinden elementar wichtig ist, nicht so locker. So wird mit Online-Sammelaktionen versucht, die laufenden Kosten der Gemeinden im Land wenigstens zu decken – wann die Gläubigen sich wieder werden versammeln können, ist indes gänzlich unklar.

Natürlich gilt die weise jüdische Notstandsregelung des Pikuach Nefesch, also des Vorrangs des menschlichen Lebens und der Unversehrtheit vor religiösen Gesetzen, in Situationen wie diesen, in denen sich landesweit jüdische Gemeinden fast aller Couleur auf virtuelle Hohe Feiertage und Kantoren via Livestream einrichten.

Aber, so formuliert es Rabbi Yitzhak Breitovitz, Gemeinderabbiner und Jura-Professor aus Maryland, im Gespräch mit JNS: »Die neue Routine, Menschen physisch voneinander fernzuhalten, lässt uns umso mehr das Gefühl von Gemeinsamkeit und Einheit vermissen, das den Tempel ausgezeichnet hat.«

Für den Reformrabbiner Riemer lautet die Corona-Lektion, dass wir alle als Gesellschaft verletzlicher seien als gedacht. »Aber wir sind auch wesentlich innovativer, als wir uns das vorgestellt hätten. ›Zoom‹ und andere neue Techniken beweisen uns, dass wir auch in schwierigen Zeiten unser Leben und unsere jüdischen Gemeinschaften gänzlich neu strukturieren können. Wenn wir Lektionen lernen, die Corona uns aufgegeben hat, dann wird der ganze Schmerz dieser Tage nicht vergebens gewesen sein.«

Das Lernen von Lektionen ist allerdings dann besonders schwierig, wenn es keinen nationalen Konsens hinsichtlich der Corona-Maßnahmen gibt.

TRUMP Die Drohung von US-Präsident Donald Trump, religiöse Zusammenkünfte zur Not auch gegen den Willen der Gouverneure durchzusetzen, hat nicht nur für viel Unruhe, sondern auch für Hunderte neuer Corona-Fälle gesorgt. Speziell im Süden missverstehen christliche Fundamentalisten ihre »Services« als politischen Widerstand gegen ein gottloses System.

Zum Glück ist die große Mehrheit der jüdischen Amerikaner da wesentlich pragmatischer eingestellt. Toralernen und Gottesdienste – selbst die die für Jugendliche sakrosankten Sommer-Camps – werden durch virtuelle Angebote kompensiert.

Tischa beAw des Jahres 5780 ist ein Feiertag, der großteils von Bildschirmkonversation und E-Mail-Botschaften geprägt ist. Und weil bis auf wenige radikale Ausnahmen in Amerikas Gemeinden Vernunft und Empathie walten, helfen die Selbstbeschränkungen der Juden bei Gottesdiensten dem ganzen Land ein wenig, das Virus einzudämmen.

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