Schock und Entsetzen: Jüdische Organisationen in den USA und Politiker aus Israel haben die Besetzung des US-Kapitols durch Anhänger des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump scharf verurteilt und Konsequenzen gefordert. Dabei kam auch – in seltener Offenheit – Trump selbst ins Kreuzfeuer der Kritik.
Schon kurz nach Beginn der Stürmung des Kongressgebäudes äußerte sich die in Washington ansässige B’nai B’rith International. »Das Kapitol repräsentiert das Fundament unserer Demokratie. Wir verurteilen jene, die hier ihre sinnlose Verachtung für die demokratischen Werte unserer Nation zur Schau stellen.«
INVASION Die Anti-Defamation League (ADL) sprach in einer Stellungnahme von einer »Invasion von Pro-Trump-Extremisten«, die vorhersehbar gewesen sei. Nicht nur in Washington, sondern auch in den Hauptstädten der 50 US-Bundesstaaten seien die Kapitolsgebäude in den letzten Monaten ins Visier rechtsextremer Regierungsgegner geraten, so die ADL. Mittlerweile sei deren Stürmung »zu einer akzeptierten Taktik für rechte Demonstranten« geworden.
ADL-Geschäftsführer Jonathan Greenblatt sagte, der 6. Januar 2021 sei ein »schwarzer Tag für die Demokratie« gewesen. Den Behörden hätte klar sein müssen, dass so etwas kommen würde. Von Rechtsextremisten gehe eine »terroristische Bedrohung« aus.
Greenblatt forderte zudem die sozialen Netzwerke zu einem härteren Durchgreifen gegen Trump auf. Er begrüßte den vorübergehenden Bann Facebooks und Twitters für Trumps Konten und die Löschung einiger Tweets des Präsidenten, forderte aber eine »dauerhafte Suspendierung« von Trumps Twitter-Konto. Der Präsident hat dort mehr als 88 Millionen Follower.
MACHTÜBERGABE Auch der Geschäftsführer des American Jewish Committee (AJC), David Harris, reagierte noch am Mittwoch auf die Ausschreitungen im Gebäude des US-Kongresses. In einem Tweet ging er Trump direkt an.
»Präsident Trump, Sie haben diese Gewalttäter aufgewiegelt. Sie haben demokratische Werte untergraben, indem Sie sich geweigert haben, die Wahlergebnisse anzuerkennen. Sie haben Menschen ermutigt, sich der friedlichen Machtübergabe zu widersetzen«, schrieb Harris auf Twitter. Der AJC-Chef weiter: »Ich vertrete eine überparteiliche Organisation, aber nicht, wenn es um Gewalttaten und Aufstände geht.«
Das Simon Wiesenthal Center in Los Angeles reagierte ebenfalls und sprach von einem »schwarzen Tag für alle Amerikaner«. Das Recht zu protestieren sei in Amerika zwar unantastbar. Aber »nichts, nicht einmal die emotionalen Anschuldigungen des Wählerbetrugs bei einer Präsidentschaftswahl«, könne ein solches Verhalten legitimieren oder entschuldigen.
VORBILD Auch im Ausland zeigte man sich erschüttert über die Vorgänge in Washington. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sprach am Donnerstag in Jerusalem von einer schändlichen Tat. Gesetzlosigkeit und Gewalt seien das Gegenteil von den Werten, die Amerikaner und Israelis schätzten, sagte Netanjahu vor einem Treffen mit US-Finanzminister Steven Mnuchin in Jerusalem. »Ich habe keinen Zweifel, dass die amerikanische Demokratie siegen wird – sie hat es immer getan.«
Auch Israels Außenminister Gabi Ashkenazi erklärte, seit ihrer Gründung seien die USA ein »Leuchtfeuer der Demokratie« und stünden für Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Unabhängigkeit. »Ich bin mir sicher, dass die Amerikaner und ihre gewählten Vertreter wissen werden, wie sie diesen Angriff abwehren werden.« Oppositionsführer Yair Lapid schrieb auf Twitter, Amerika müsse wieder ein »Vorbild« werden für Demokratien in aller Welt.
Anhänger des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump waren am Mittwoch vor dem Sitz des Senats und des Repräsentantenhauses aufmarschiert und in das Gebäude eingedrungen. Die beiden Kongresskammern hatten ihre Beratungen zur Zertifizierung des Präsidentschaftswahlergebnisses für Stunden unterbrechen müssen.
zertifizierung Vier Menschen starben nach ersten Angaben bei der Stürmung des Gebäudes. Am späten Abend (Ortszeit) wurde die Sitzung fortgesetzt, und am frühen Morgen stimmte der Kongress mit großer Mehrheit der Zertifizierung der Wahl Joe Bidens zum neuen US-Präsidenten zu.
Der Präsident des Jüdischen Weltkongresses (WJC), Ronald S. Lauder, lobte den Kongress die Bestätigung Bidens und verurteilte die gewaltsame Besetzung des Kapitols. Lauder erklärte am Donnerstag in einer Pressemitteilung: »Der heutige Tag ist ein Sieg für das Durchhaltevermögen der Demokratie nach dem brutalen Angriff auf die Integrität und die historischen Traditionen unserer Nation, welchen wir gestern erlebt haben.« Er lobte Vizepräsident Mike Pence und die Mehrheit des Kongresses dafür, dass sie dem Druck auf Annulierung des Wahlergebnisses vom November nicht nachgegeben hätten.
»Jetzt ist die Zeit für alle Amerikaner guten Willens, unabhängig von politischen oder ideologischen Ansichten, sich hinter dem gewählten Präsidenten Biden und der gewählten Vizepräsidentin Harris zu versammeln und sicherzustellen, dass unsere Regierung die COVID-19-Pandemie erfolgreich besiegt und die vielen Herausforderungen, mit denen unsere Nation und die Welt konfrontiert sind, angeht«, so der WJC-Präsident weiter.
PUTSCHVERSUCH Die frühere Vorsitzende des Dachverbandes jüdischer Gemeinden in den USA (Jewish Federations) und jetzige Kongressabgeordnete für North Carolina, Kathy Manning, war wie viele andere Politiker zum Zeitpunkt des Angriffs selbst im Kapitolsgebäude und musste von Sicherheitskräften vor dem aufgebrachten Mob in Sicherheit gebracht werden. »Dieser versuchte Putsch ist ein terroristischer Akt«, erklärte Manning anschließend und forderte, dass die Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft gezogen werden müssten.
Der Moskauer Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt, Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz, rief zum Gebet für die USA auf. »Beten wir für das Land, das die Welt Zivilisiertheit im politischen Diskurs gelehrt hat und wie man demokratische Institutionen aufbaut. Wenn die USA eine Erkältung haben, hat die Welt eine Lungenentzündung.«
missbilligung Ein jüdischer Vertreter tanzte allerdings aus der Reihe derer, die ihre Missbilligung äußerten. Der führende ukrainische Rabbiner Mosche Azman verglich die Proteste in der US-Hauptstadt mit jenen in Kiew, die 2014 zum Sturz des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch führten. Das berichtete die Nachrichtenagentur JTA.
»Die Menschen, die gegen massenhaften Wahlbetrug protestieren, sind in die Hauptstadt eingebrochen. Gott segne Amerika«, schrieb Azman laut JTA auf seiner Facebook-Seite. Im Mai 2019 war der Rabbiner in Paris beim gemeinsamen Zigarrenrauchen mit Rudy Giuliani, dem Anwalt Trumps, fotografiert worden.
Yaakov Dov Bleich, der auch Oberrabbiner der Ukraine ist und der einzige, der vom Jüdischen Weltkongress und dem Europäischen Jüdischen Kongress als solcher anerkannt ist, distanzierte sich. »Rabbi Azman äußert seine eigene Meinung«, sagte Bleich laut JTA. »Ich denke nicht, dass das ukrainische Judentum einen Standpunkt zur US-Politik hat oder haben sollte.«