Schweden

Poststempel Hamburg

»Das Wetter ist sehr trübe in Hamburg«, schrieb Minna Wächter 1940 an ihren Sohn. Diese Postkarte hält Torkel, der Enkel, nun 70 Jahre später in seiner Hand. Er blickt nachdenklich aus dem Fenster seiner Stockholmer Altbauwohnung und zieht behutsam eine weitere vergilbte Karte aus dem Stapel, datiert auf den 1. Juni 1940. Vom »vorsichtig gewordenen Kater Heinerle« ist darin die Rede – typische Beispiele für die oft nur angedeuteten Ängste und Sorgen der Großeltern, erklärt der Enkel in akzentfreiem Deutsch.

Postkarten Zwischen März 1940 und September 1941 schreibt das Hamburger Ehepaar Gustav und Minna Wächter all seine Hoffnungen, Wünsche und Sorgen auf 32 vierzehn mal neun Zentimeter große Karten, sorgfältig verfasst in Sütterlin. Die beiden geben sich große Mühe, ihren Sohn Walter im fernen Schweden nicht zu beunruhigen. Sie halten ihn über das Schicksal von Tanten und Nachbarn auf dem Laufenden, berichten von Theaterabenden im Jüdischen Kulturbund, erkundigen sich nach seiner Verlobten Erna, legen ihm fürsorglich alte Familienrezepte ans Herz und erwähnen flüchtig Vorbereitungen zu Rosch Haschana.

Torkel Wächter hat seine Großeltern nie kennengelernt. Als er vor rund zehn Jahren im Nachlass seines Vaters Walter Wächter auf 32 eingestaubte Postkarten stieß, verstand er weder Sprache noch Inhalt. »Mein Vater hat seine deutsch-jüdische Familiengeschichte nie erzählt«, bedauert Torkel Wächter. Nachdem sein Vater 1938 in Schweden Zuflucht gefunden hatte, buchstäblich in letzter Minute, kehrte er Deutschland für immer den Rücken. Nach sieben Jahren Landarbeit auf schwedischen Bauernhöfen entschloss er sich 1945, nicht länger auf sein Palästina-Zertifikat zu warten. Er studierte Psychologie, zog nach Stockholm, legte seine Muttersprache ab und baute sich eine neue Existenz auf. Seine glückliche Jugend in Hamburg erwähnte er gegenüber seinen Kindern nie.

überraschungen Als Torkel Wächter vor zehn Jahren begann, Deutsch zu lernen, Material zu sammeln, Archive zu durchstöbern und alte Jugendfreunde seines Vaters auszufragen, war er gerade selbst Vater geworden. »Mir wurde klar, dass meine Kinder irgendwann mehr wissen wollten. Ich konnte schweigen wie mein Vater, oder meine eigene Geschichte aufspüren«, sagt er. Sie zu erzählen, ist für ihn zu einer Reise voller Überraschungen geworden.

Torkel Wächter schreibt eigentlich Romane. Doch für die Aufarbeitung seiner Familiengeschichte wählte er das Internet. »Die Texte sind kurz, gut lesbar und sprechen für sich selbst. Das prädestiniert sie geradezu für so ein Format«, schwärmt er. Seit dem 29. März sind die letzten Postgrüße seiner Großeltern aus Deutschland auf Deutsch und Englisch zugänglich – häppchenweise. Denn eine nach der anderen erscheinen die Postkarten – Zeugen einer ausgelöschten Kultur – an jeweils dem Tag, an dem sie vor 70 Jahren geschrieben wurden. Diese Finesse der parallelen Zeitreise soll dem Leser den Zugang zu gelebter Geschichte leichter erschließen. Wie feiert Minna ihren 60. Geburtstag? Überlebt Walters Lieblingscousine Edith in Amsterdam? Gelingt es Max, Visa für Argentinien aufzutreiben?
Torkel Wächter rechnet fest damit, mit www.32postkarten.com deutsch-jüdische Geschichte gerade für junge Menschen erfahrbar zu machen. »Es gab so viele jüdische Familien, die ein ähnliches Schicksal erlitten haben wie meine Großeltern. Wir, die Enkelgeneration, haben nun die Chance, unsere Erfahrungen auszutauschen.«

Experiment Durch den interaktiven Blog-Charakter der Webseite hofft er auf viele neue Begegnungen, gerade mit deutschsprachigen Lesern. »Das Projekt ist ein Experiment mit offenem Ausgang. Ich bin gespannt, welche Dynamik es entwickeln wird«, sagt der Autor erwartungsvoll.

»Früher konnte ich nicht mit der Deutschen Bahn fahren, ohne dass mich ein Schauer überkam.« Heute hat Torkel Wächter seine Liebe für das Land entdeckt. Seine Kinder besuchen die Deutsche Schule in Stockholm, besitzen wie er seit fünf Jahren einen deutschen Pass und fahren, so oft es geht, nach Deutschland. Die Arbeit an den Postkarten hat sein Leben und das seiner Familie verändert.

www.32postkarten.com

Brüssel

Früherer EJC-Chef Kantor von EU-Sanktionsliste gestrichen

Die Streichung des russisch-britischen Geschäftsmanns erfolgte offenbar auf Druck der ungarischen Regierung

 14.03.2025

Dänemark

Jüdin in Kopenhagen attackiert

Die Angreifer beschimpften sie als »zionistisches Stück Scheiße« und würgten ihr Opfer

 14.03.2025

USA

Wer Jude ist, bestimmt nun er

Donald Trump wird immer mehr wie der berühmt-berüchtigte Wiener Bürgermeister Karl Lueger

von Michael Thaidigsmann  13.03.2025

Irak

Bericht: Israelisch-russische Geisel Elizabeth Tsurkov möglicherweise im Iran

Nachdem die USA im Fall der entführten Elizabeth Tsurkov den Druck auf den Irak erhöhen, heißt es, die Geisel wurde in den Iran verschleppt

 12.03.2025

Belgien

Fantasien über Mord an Juden fallen unter die Meinungsfreiheit

Entsetzen in der jüdischen Gemeinschaft: Ein Kolumnist wurde vom Vorwurf der Aufstachelung zur Gewalt gegen Juden freigesprochen

von Michael Thaidigsmann  12.03.2025

Österreich

Zwei Wochen lang »Shalom Oida«

Das Jüdische Filmfestival in Wien präsentiert die Realität jüdischen Lebens – von Antisemitismus bis Schidduch

von Stefan Schocher  11.03.2025

Frankreich

»Mach hier nicht auf Jude«

Eine Umfrage unter 2000 Jugendlichen zeigt, wie sich antisemitische Vorurteile auch an französischen Schulen ausbreiten

von Michael Thaidigsmann  10.03.2025

Porträt

Der Iberzetser

Dass Russen heute noch Einblick in die jiddische Literatur erhalten, ist vor allem Walerij Dymschiz zu verdanken. Ein Treffen mit dem Sprachmittler in seiner Stammkneipe in St. Petersburg

von Polina Kantor  09.03.2025

Großbritannien

Auf der Couch bei Ms. Freud

Sie ist die Urenkelin des prominentesten Psychologen der Welt. In ihrem Video-Podcast »Fashion Neurosis« stellt Bella Freud die Fragen

von Nicole Dreyfus  08.03.2025