Als der Jungbauer Jozef Kalina entdeckt, dass die Waldstraße zu seinem Dorf in Ostpolen mit jüdischen Grabsteinen gepflastert ist, fragt er die älteren Bauern: »Wo ist der jüdische Friedhof? Was ist mit ihm passiert?« Die Antwort fällt wie erwartet aus: »Die Deutschen haben ihn 1941 zerstört, als sie auch die Juden im Dorf ermordeten.« Doch dann entdeckt Kalina immer mehr Grabsteine – in den Fundamenten von Scheunen, in Hofeinfahrten, sogar mitten auf dem Kirchhof. Als er weiter fragt, schlägt ihm nur noch feindseliges Schweigen entgegen. Am Ende des Films Poklosie (Nachlese) von Wladyslaw Pasikowski ist Jozef Kalina tot, hängt wie Jesus gekreuzigt am Tor seiner eigenen Scheune.
Es ist diese Szene, die dem Thriller viel Kritik eingebracht hat. Vor allem rechtsnationale Publizisten werfen dem Regisseur »Kitsch und Geschichtsfälschung« vor. Doch die Masse der katholischen Polen versteht die Metapher der Kreuzigungsszene sofort.
Pasikowski, der in seinen Filmen auf kräftige Bilder und eine derbe Sprache setzt, inszeniert die Suche nach der historischen Wahrheit wie eine Gewissenserforschung. So wie die meisten Bauern im Filmdorf wissen, wer 1941 am Pogrom gegen die jüdischen Nachbarn beteiligt war, wissen auch die meisten Polen, wer sich nach dem Einmarsch der Nazis in die Sowjetunion zu Pogromen an Juden anstiften ließ: Ukrainer, Litauer, Letten, Esten – und auch Polen.
gewissen Im Film verkörpern die Brüder Kalina die Stimme des Gewissens. Jozef, meisterhaft gespielt von Maciej Stuhr, bewirtschaftet den elterlichen Hof, während Franciszek (Ireneusz Czop) seit 20 Jahren in den USA lebt und seinen Bruder nur besucht, um nach dem Rechten zu sehen. Denn Jozef tut seit einiger Zeit seltsame Dinge: Er kauft den Nachbarn die jüdischen Grabsteine ab, reißt die großen »Pflastersteine« aus der Waldstraße und stellt sie auf einem seiner Weizenfelder wieder auf.
Mit der Zeit entsteht ein neuer symbolischer Friedhof mit über 300 Grabsteinen. »Warum tust du das?«, fragt ihn Franciszek. Für ihn sind Juden oder »Jüdlein«, wie er zunächst sagt, vor allem Fremde. Doch Jozef bekennt nur kopfschüttelnd: »Ich musste das tun.« Er lernt sogar genügend Hebräisch, um die Namen und Inschriften auf den Grabsteinen entziffern zu können.
Besatzer Seit dem Jahr 2000, als das Buch Die Nachbarn von Jan Tomasz Gross zum ersten Mal erschien, diskutieren die Polen immer wieder über das Pogrom von Jedwabne. In der nordostpolnischen Kleinstadt hatten katholische Polen auf Geheiß der nazi-deutschen Besatzer ihre jüdischen Nachbarn ermordet und in einer Scheune verbrannt. Zu ähnlichen Pogromen kam es 1941 in rund 60 Orten Polens, schätzen Historiker.
Nach dem Krieg hörte das Morden nicht auf. Im Juli 1946 töteten Katholiken in der zentralpolnischen Stadt Kielce heimkehrende Holocaust-Überlebende. Die Mörder hatten die Häuser und Wohnungen der Juden, die sie bereits in Besitz genommen hatten, nicht mehr zurückgeben wollen. Dabei gab es durchaus auch Christen, die Juden retteten. Mehr als 6300 Polen erhielten von der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem die Medaille »Gerechter unter den Völkern«.
Auch der Film Poklosie ist inspiriert vom Pogrom in Jedwabne. Dabei geht es aber weder um Jedwabne, noch um die Juden, die damals ermordet wurden. Im Film brennt nicht die Scheune von Jedwabne, sondern Jozef Kaminas Weizenfeld mit den darin aufgestellten jüdischen Grabsteinen. Die Bauern im Dorf wollen die Erinnerung an das Pogrom vor 60 Jahren auslöschen. Doch als sie Kalina wie Jesus ans Scheunentor nageln, ermorden sie – in seiner Person – ein zweites Mal die Juden von 1941. Das gewollte Vergessen misslingt, Medien in aller Welt berichten über den Mord und seinen Hintergrund, ein Denkmal entsteht, an jedem Jahrestag kommen Juden in das ostpolnische Dorf und gedenken der Toten.
kollaboration Für Filmkritiker, Publizisten und Internetnutzer aus dem rechtsnationalen Lager ist das zu viel. Sie diffamieren den Schauspieler Maciej Stuhr als Verräter Polens, Nestbeschmutzer und – »Juden«. Nationalkatholische Publizisten sehen sich selbst als »polnische Nation« an den Pranger gestellt und lehnen eine historische Gewissenserforschung »der Polen« ab, an deren Ende das Bekenntnis stehen müsste, teilweise mit den Nazis kollaboriert zu haben.
Die Masse der Kinogänger aber scheint anders zu denken. Drei Monate nach seiner Premiere läuft der Film noch immer in den Kinos. Polen haben keineswegs etwas dagegen, sich kritisch mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Insbesondere dann nicht, wenn die »Gewissenserforschung« als Thriller daherkommt, spannend und auch ein bisschen kitschig.