Wer dem Mittfünfziger morgens um 6.30 Uhr begegnet, staunt darüber, wen er vor sich hat. Der Mann in rotem T-Shirt und schwarzen Shorts, der da durch Londons Straßen joggt, wird ein paar Stunden später schwere Gewänder und Mitra tragen. Es ist Erzbischof Justin Welby, seit Anfang des Jahres Oberhaupt der anglikanischen Kirche. In der Londoner Tageszeitung The Times nennt er sich »einen joggenden Diener Jesu Christi«.
Typisch für das englische Establishment ging der 1956 in London geborene Welby in Eton zur Schule, danach studierte er in Cambridge und stieg ins Ölgeschäft ein. Als er sich elf Jahre später »von Gott berufen fühlte«, brach er seine Karriere ab und fing an, Theologie zu studieren. Dem Studium folgten Ämter als Kurator und Pfarrer, bis er 2002 Kanon der Kathedrale von Coventry wurde. Dort arbeitete er in einem Versöhnungszentrum, vermittelte in Afrika zwischen Muslimen und Christen, verhandelte mit Al-Quaida-Funktionären und wurde gar als Geisel genommen. Zuletzt war er Bischof von Durham im Norden Englands.
So viel war über Welby bekannt, bis die britische Zeitung The Daily Telegraph noch einiges mehr über ihn herausfand – mehr, als er angeblich selbst wusste. So soll sein Vater verheimlicht haben, dass er aus einer deutsch-jüdischen Familie stammte und eigentlich Bernhard Gavin Weiler hieß. Er wanderte 1929 in die USA aus, soll Alkoholiker gewesen sein und mit »italienischen Freunden« Geschäfte gemacht haben. Verheiratet mit der Tochter eines Fabrikbesitzers, hatte er mehrere Affären, unter anderem mit der Schwester John F. Kennedys und der Schauspielerin Vanessa Redgrave. Die Ehe zerbrach.
Offenbarungen Zurückgekehrt nach London, heiratete er Jane Portal, eine ehemalige Privatsekretärin Winston Churchills. Aus dieser Ehe, die auch nicht hielt, ging Justin Welby hervor. Tim Welby, der älteste Sohn des Erzbischofs, sagte der Jüdischen Allgemeinen, »die Offenbarungen über meinen Großvater« hätten ihn und seinen Vater wirklich überrascht. Justin Welby selbst erzählt über seinen Vater, dieser sei »ein komplizierter und brillanter Mann« gewesen, »der im angetrunkenen Zustand oft Sachen sagte, von denen man nicht wusste, ob sie falsch waren oder wahr«.
Welby gilt als moderater Kirchenmann. Aufgrund seiner langen Erfahrungen im Geschäftsleben schätze er deutliche Worte, sagt er über sich selbst.
Israel Ende Juni reiste er in den Nahen Osten. Bereits in seinem früheren Amt habe Welby versucht, Israelis und Palästinenser zusammenzubringen, sagte Kanon Andrew White der Online-Zeitung Times of Israel. Welby habe »von Anfang an ein Verständnis der negativen Geschichte von Christentum und Judentum gehabt und antiisraelische Positionen der Kirche auch in diesem Kontext verstanden«.
Als die Vollversammlung der Anglikaner im Sommer 2012 über das Programm einer kirchlichen Organisation zum Thema »Leben unter israelischer Besatzung« abstimmte, enthielt sich Welby. Das Votum der Kirche führte zu Protesten vonseiten britisch-jüdischer Organisationen. Welby sagte später, er hätte eigentlich dagegen stimmen müssen, »da das Projekt nicht die Komplexität der Situation im Nahen Osten ausdrücke«.
Nach Welbys Besuch in Nahost sagte der Vorsitzende der Zionistischen Föderation in Großbritannien, Paul Charney, der Jüdischen Allgemeinen, es sei »deutlich, dass Welby intensiv daran arbeite, die Beziehungen zwischen jüdischen und anglikanischen Gemeinden zu verbessern«.
Beschwerden Doch aus dem palästinensischen Lager kamen Beschwerden. So waren Mitglieder einiger Kirchen in Bethlehem und die Politikerin Hannan Ashrawi darüber verärgert, dass Welby sie nicht vor Ort besuchte, sondern sie in Jerusalem traf.
Im Gespräch mit Israels Staatspräsident Schimon Peres sowie mit Vertretern des Oberrabbinats unterstrich Welby Israels Recht, in Sicherheit und Frieden innerhalb international anerkannter Grenzen zu leben – Worte, die nicht jeder Kirchenmann über die Lippen bringt. In einer Rede vor führenden christlichen Repräsentanten kritisierte Welby Israel jedoch und wiederholte die Worte des anglikanischen Bischofs von Jerusalem, Suheil Dawani: »Diejenigen, die Macht und Sicherheit suchen, werden nichts von beidem finden.«