Als Aleksandar Lebl im Jahr 1992 einmal zufällig eine Stunde Aufenthalt auf dem Bahnhof in Graz hatte, blätterte er in einem Telefonbuch. Seit Jahren war die jüdische Gemeinde Jugoslawiens auf der Suche nach dem Belgrader »Judenkommissar« Egon Sabukoschek, der 1941 an Hunderten Erschießungen beteiligt war. »Ich wusste, dass Sabukoschek aus Graz stammte, und suchte nach Verwandten; aber da stand er, sein Name, seine Adresse«, sagt Lebl. Er rief Simon Wiesenthal an, der bereitete die Verhaftung vor. Sabukoschek kam vor Gericht, starb aber noch vor der Verurteilung.
Als er diese Geschichte zu Ende erzählt hat, nimmt der 92-Jährige seinen Gehstock und verschwindet im eingeschossigen Wohngebäude mit Giebeldach, das U-förmig den kleinen Hof umschließt. Dort zieht er aus einem Papierstapel die Ausgabe der serbischen Tageszeitung Politika hervor, in der er einen Artikel über die Verhaftung geschrieben hatte.
Im Sommer sitzt Lebl oft auf seinem Hof, eingeschlossen von den Brandwänden der hohen Neubauten im Belgrader Stadtteil Zvezdara, zwischen dichten Rosenbüschen, einer kleinen Steinstatur von Johannes Gutenberg und Dutzenden Kakteen, auf seinem Gartenstuhl und empfängt Gäste. Viele wollen ihn sprechen, Freunde, Journalisten, Kollegen. Kürzlich war wieder eine Reisegruppe samt Kamerateam aus Israel da, denn Aleksandar Lebl ist entfernt mit Theodor Herzl verwandt. Für die Besucher ein ernsthaftes Anliegen, doch Lebl findet das eher amüsant.
Übergriffe Beinahe sein ganzes Leben lang war er Journalist. Ab 1955 arbeitete Lebl bei den jugoslawischen Zeitungen Vecernje novosti, Danas, Ekonomist, bis in die 90er-Jahre war er Korrespondent der Financial Times. Und noch heute schreibt er regelmäßig, zum Beispiel über den Antisemitismus in Serbien.
In der jüdischen Gemeinde Serbiens stand er der Kommission zur Beobachtung des Antisemitismus vor und beschäftigte sich mit Übergriffen aus der rechten Szene, die die serbische Polizei gern als Kinderstreiche abtut. Heute seien vor allem Roma im Lande bedroht, sagt Lebl. 90 Prozent der Serben schließlich hätten nie einen der etwa 790 serbischen Juden gesehen. »Und trotzdem gibt es Antisemitismus, sagen wir, 100 Antisemiten für einen Juden.« Lebl zwinkert, es ist eine raue Anspielung auf die Anordnung des Oberkommandeurs der Wehrmacht, Wilhelm Keitel, der für jeden getöteten deutschen Soldaten 100 Juden erschießen ließ, für jeden verwundeten 50.
Lebl erzählt auf Serbokroatisch oder in klarem, schönem Deutsch. In der Schule hat er Goethe und Schiller gelesen. Fehlerfrei rezitiert er »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn« und lacht. »Danach kam ›Lili Marleen‹«, sagt er. Schon vor der Kapitulation Jugoslawiens im April 1941 hatten die Deutschen Radio Belgrad besetzt. Von dort aus ging das Lied in die Welt. Noch heute kann es Lebl auswendig – auf Deutsch, Italienisch, Französisch, Russisch und Serbokroatisch. Es ist eine von Lebls kleinen Anekdoten, die die großen Geschichten des 20. Jahrhunderts fassbar machen.
Bataillon Lebl wurde 1922 in Belgrad geboren. Er studierte, als am 6. April 1941 die Bombardierung Belgrads begann, am 19. April musste er sich mit den anderen männlichen Juden bei der Gestapo melden. Dann begannen die Erschießungen. Mit falschen italienischen Papieren gelangte Lebl schließlich über Sarajevo und Dubrovnik nach Split, wo er in kürzester Zeit Italienisch lernte, gegen Essen Unterricht gab.
Im Dezember wurde die jüdische Bevölkerung auf drei KZs in Dalmatien verteilt. Trotz Drucks der Deutschen weigerte sich Mussolini zunächst, die Juden auszuliefern, willigte dann doch ein. Aber die Verantwortlichen widersetzten sich der Anordnung; sie fürchteten, bei ihren anderen »Schutzbefohlenen«, etwa den serbischen Tschetniks, an Glaubwürdigkeit zu verlieren. »Das hat uns gerettet«, sagt Lebl. Mit 3500 anderen Juden landete er auf der Adria-Insel Rab, einem Lager, das von den italienischen Faschisten auf dem Gebiet des unabhängigen Staates Kroatien eingerichtet worden war.
Nach der Kapitulation Italiens im September 1943 schlossen sich die Häftlinge in einer Partisanenbrigade zusammen: Vier slowenische Bataillone zogen in Richtung Slowenien; das fünfte Bataillon, das jüdische, in dem auch Lebl kämpfte, zog nach Kroatien. Von 400 Mitgliedern kamen 100 ums Leben. »Sie sind ja keine Soldaten gewesen«, gibt Lebl zu bedenken. Er schüttelt den Kopf und lacht. »Wir hatten eine Pistole im Lager«, sagt er. »Die war kaputt. Alte Kämpfer zeigten uns also, wie man mit einer nicht funktionierenden Pistole schießt.« Die jüdischen Partisanen versuchten auch, das KZ Jasenovac zu befreien, scheiterten jedoch.
Rund 300 Kilometer war der Partisan von der Hauptstadt entfernt, als Belgrad am 20. Oktober 1944 von der Jugoslawischen Volksbefreiungsarmee und der Roten Armee befreit wurde. Das Bataillon feierte und schoss in die Luft – verbotenerweise, denn die Munition war knapp. »Dann rannten wir sicher 200 Kilometer.«
Während er erzählt, klingelt das Telefon, das er sich in die Hemdtasche gesteckt hat. Der nächste Besuch kündigt sich an – gleich sagt er es Slavica, der Frau, die während der Woche bei ihm wohnt, ihm hier und da zur Hand geht, Bücher heraussucht, kocht. »Ich denke, dass die Dinge, die ich erzähle, wichtig sind«, sagt er. Plötzlich huscht ein schelmisches Lächeln über sein Gesicht, und er fügt hinzu: »Es gibt so viele Sachen, von denen ich keine Ahnung habe. Aber der Holocaust, der Kampf gegen den Faschismus und der Antisemitismus – davon verstehe ich etwas. Also erzähle ich davon.«