Freitagnachmittag in der Synagoge des Dorfes Rivera. Der Lärm einer Kindergruppe erfüllt den kleinen Backsteinbau. Elias Ratuschny tritt ein, er trägt eine Baskenmütze. Der 74-jährige hochgewachsene Mann zeigt auf eine Gedenktafel im Eingangsbereich, auf der Dutzende von Namen stehen: Glik, Schejter, Ratuschny, Dorensztein. »Das waren die ersten Siedler von Rivera. Heute ist von ihren Siedlungen nichts mehr übrig«, sagt Elias Ratuschny. Nur noch der Hauptort existiert: das Dorf Rivera.
Ratuschnys Großvater kam 1905 als junger Mann aus Russland nach Rivera. 16 Familien ließen sich damals auf dem Land nieder, das die Jüdische Siedlungsvereinigung für sie gekauft hatte. Diese Organisation erwarb Land in Südamerika, vor allem in Argentinien, um Juden aus Osteuropa ein neues Leben zu ermöglichen – fernab von Pogromen und Elend.
Aber die Siedler waren enttäuscht: Als sie auf ihrem Stück Land ankamen, mussten sie Löcher graben, um Unterschlupf zu finden. »Häuser gab es noch nicht. Das Leben war sehr hart«, erzählt Elias Ratuschny im gemütlichen Wohnzimmer seines Einfamilienhauses in Rivera. Erschwerend kam hinzu, dass die meisten Neuankömmlinge keine Bauern waren und die Landwirtschaft von der Pike auf lernen mussten. Und schließlich war das Klima hier, 600 Kilometer südwestlich der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires, wo die Provinz La Pampa beginnt, sehr ungünstig: Die Siedler erlitten viele Dürrejahre.
Lehmhütten Trotzdem ließen sich immer mehr jüdische Familien in der Gegend nieder. Ende der 20er-Jahre waren es bereits 600. Von der Jewish Colonization Association bekamen sie jeweils 150 Hektar Land, auf dem sie ihre Lehmhütten errichteten. So entstanden insgesamt zwölf Siedlungen. In jeder gab es eine kleine Synagoge, eine spanischsprachige und eine jüdische Schule, ein Theater und eine Bibliothek. Rivera war eine der Siedlungen. Als sie 1907 ans Eisenbahnnetz angeschlossen wurde, entwickelte sie sich zum Hauptort der jüdischen Kolonie. 1924 wurde eine Synagoge errichtet, die bis heute in Gebrauch ist.
Rivera ist eine von rund 40 Colonias Agricolas Judías, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Argentinien entstanden. Neuankömmlinge und Einheimische pflegten in der Regel ein gutes Verhältnis: »Die Solidarität war groß. Unsere Vorfahren hatten von der Landarbeit zuerst keine Ahnung, aber die Einheimischen brachten es ihnen bei«, sagt Ratuschny.
Bald sah man jüdische Siedler zu Pferd, die Rinder zusammentrieben und wie Argentinier den Becher mit Mate-Aufguss kreisen ließen. Der jüdische Gaucho war geboren, dem der aus Litauen stammende Schriftsteller Alberto Gerchunoff 1910 mit seinem Erzählband Los Gauchos Judíos (Jüdische Gauchos) ein literarisches Denkmal setzte. In Rivera und den umliegenden Siedlungen lebten die Siedler weniger von der Viehzucht als vom Getreide: Elias Ratuschnys Großvater baute Weizen, Roggen und Gerste an, Sohn und Enkel setzten die Tradition fort.
Kindergräber Elias und seine Frau Beatríz Raquel bringen ein Tablett mit Kaffee, selbst gebackenen Plätzchen und Knisches, runden Kartoffelküchlein nach osteuropäisch-jüdischem Rezept. Elias zeigt Fotos aus der Anfangszeit von Rivera.
Nach der Stärkung fährt er mit dem Auto zum jüdischen Friedhof außerhalb des Dorfes. Im hinteren Teil steht zwischen Zypressen eine schlichte Menora. Nicht weit davon entfernt befinden sich rund 200 verwitterte Kindergräber. »Aron Morozoff« steht auf einem, und daneben: »Starb am 26.5.1927 mit drei Jahren«.
»Meine Großeltern sagten immer, die Kinder der ersten Siedler seien an einer Epidemie gestorben, aber das stimmt nicht«, sagt Ratuschny. Schuld an ihrem Tod seien vielmehr die ungesunden Lebensbedingungen gewesen: das verschmutzte Wasser, der Mangel an Hygiene und fehlende Kühlmöglichkeiten für Lebensmittel. Der einzige Arzt sprach nur Spanisch und konnte sich mit den Einwanderern nicht verständigen. »Erst 1914 kam Dr. Sonnenberg, ein Arzt, der Jiddisch sprach. Da hörte das Sterben der Kinder auf.«
Abel Sonnenberg wird in Rivera bis heute verehrt. Auch er wurde auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt. Wenige Meter von seiner letzten Ruhestätte entfernt befindet sich das Grab einer Frau, deren Geschichte es noch genau zu erforschen gilt: Norita Eldodt. Die aus Deutschland stammende Holocaust-Überlebende starb 1960 mit 47 Jahren unter mysteriösen Umständen im südargentinischen Bariloche, wo sie möglicherweise im Auftrag Israels oder Deutschlands dem ehemaligen KZ-Arzt Josef Mengele auf der Spur gewesen war. In Rivera wurde Norita Eldoth begraben, weil dort ihre Geschwister lebten. Denn in den 30er-Jahren hatten sich im Dorf auch deutsche Juden niedergelassen.
Elias Ratuschny blickt auf die Felder, die den Friedhof umgeben. »Diese Äcker wurden früher alle von jüdischen Bauern bestellt. Nichts davon ist mehr übrig, es fand ein Exodus statt, auf dem Land gibt es keine Zukunft.« Ratuschny schimpft auf die Agrarpolitik der Regierung, die den Landwirten das Überleben erschwere: »Das Land konzentriert sich allmählich wieder in den Händen weniger – so wie vor 100 Jahren.«
Genau genommen begann der Exodus der jüdischen Bewohner aus Rivera und den umliegenden Siedlungen bereits in den 50er-Jahren. Etwas Ähnliches ereignete sich in allen jüdischen Agrarkolonien Argentiniens. Sie wurden von den Einwanderern mühsam aufgebaut – doch nach wenigen Generationen begann die Landflucht.
»Die Kinder und Enkel zogen zum Studieren in die Städte und blieben dort«, erklärt Mariano del Prado, ein angehender Rabbiner aus Rivera. Er selbst ging den umgekehrten Weg: Aufgewachsen in der Hauptstadt Buenos Aires, zog er nach dem Studium 2011 der Liebe wegen nach Rivera. Er hatte eine Frau aus dem Dorf kennengelernt und gründete mit ihr auf dem Land eine Familie. Heute haben die beiden zwei Kinder im Alter von drei und fünf Jahren.
Minjan »Wir haben 2009 geheiratet, es war wunderschön. Die erste Hochzeit in Rivera seit zwölf Jahren!«, sagt Mariano in der Dorfsynagoge und lächelt. Jüdische Hochzeiten sind selten geworden. Nur noch 150 Juden leben im Dorf – die meisten von ihnen sind betagt. Längst ist die Bevölkerungsmehrheit in Rivera katholisch. In der Synagoge kommt an Freitagabenden nur mit Mühe und Not ein Minjan zusammen.
»In meiner Jugend war die Synagoge immer voll«, erinnert sich Elias Ratuschny. An den Hohen Feiertagen sei der Raum aus allen Nähten geplatzt. »Das ist vorbei, das ist Geschichte.« Bedauernd blickt Ratuschny auf die leeren Stuhlreihen im Synagogenraum. Seine Töchter sind vor Jahren aus Rivera weggezogen: Die eine lebt in Buenos Aires, die andere in Israel.
Elias Ratuschny sammelt Material für ein Museum der jüdischen Geschichte: liturgische Gegenstände, Dokumente, Briefe und Pässe der Einwanderer aus Osteuropa. Die Kommunalregierung will das Museum im ehemaligen Bahnhof von Rivera einrichten, aber die Planung geht nur schleppend voran.
Um die Juden, die heute noch in den entlegenen ehemaligen Agrarsiedlungen der argentinischen Pampa leben, kümmert sich die Asociación Israelita de las Pampas, für die Mariano del Prado tätig ist. In den meisten Dörfern gibt es schon lange keinen festen Rabbiner mehr. Die Israelitische Vereinigung entsendet daher ihre Mitarbeiter, um Familien bei der Aufrechterhaltung jüdischen Lebens zu unterstützen. »Wir helfen bei der Vorbereitung von Barmizwas, Hochzeiten oder Beerdigungen«, erzählt Mariano. In einigen Dörfern restauriert die Vereinigung die Synagogen. Noch ist das jüdische Landleben in Argentinien nicht völlig reif fürs Museum.