Alice Herz-Sommer, die wohl älteste Schoa-Überlebende, ist am Sonntag 110-jährig in London verstorben. Laut Herz-Sommers Familie sei die Pianistin friedlich eingeschlafen.
Alice Herz wurde 1903 in Prag geboren. Als der Erste Weltkrieg 1918 zu Ende geht, spielt sie bereits seit zehn Jahren Klavier. Die Eltern sind Industrielle, sie gehören zum gebildeten deutschsprachigen jüdischen Bürgertum Prags. Die Wiener und Prager Kulturszene ist häufig bei Familie Herz zu Gast: Gustav Mahler, Franz Werfel, Max Brod, Franz Kafka.
Etüden 1930 ist Alice Herz eine international gefeierte Pianistin. 1931 heiratet sie Leopold Sommer, 1937 kommt ihr Sohn Raphael zur Welt. Zwei Jahre später marschieren die Deutschen ein. Sie entziehen den Herz-Sommers sämtliche Rechte: zu leben, wie sie wollen, zu leben, wo sie wollen, und schließlich, überhaupt zu leben. Im Juli 1942 wird die 72-jährige Mutter zur Deportation abgeholt, eine alte, kranke Frau. Wer kann jetzt noch helfen? Alice gibt selbst die Antwort: »Nicht der Mann, nicht das Kind. Nur du selbst. Und im selben Moment: die 24 Etüden von Chopin.« Fortan übt sie daheim, stundenlang. Sie lernt die Stücke auswendig, etwas, was zu dieser Zeit nicht einmal Artur Rubinstein konnte, wie die Pianistin stolz vermerkt.
1943 werden die Herz-Sommers mit ihrem Sohn nach Theresienstadt deportiert. Theresienstadt ist ein sogenanntes Vorzeigelager der Nazis, um die internationale Öffentlichkeit über das tatsächliche Schicksal der Juden zu täuschen. Zur Mimikry gehört auch ein aufwendiges Kulturprogramm. Europaweit bekannte jüdische Musiker zählen zu den Gefangenen, geben Abend für Abend Konzerte.
Für Alice Herz-Sommer ist das die Überlebenschance. Mehr als 100 Konzerte gibt sie, die meisten spielt sie auswendig. Ihr am meisten gefeiertes Programm sind die Chopin-Etüden, die sie insgesamt zehnmal aufführt, bis zur Befreiung von Theresienstadt im Mai 1945.
London 1947 emigriert Alice Herz-Sommer nach Israel, wo sie 37 Jahre lebt. Ihr Sohn Raphael tritt in ihre Fußstapfen, wird wie sie Musiker, ein berühmter Cellist. Er geht nach London, sie folgt ihm.
2013 drehten die Regisseure Malcolm Clarke and Nicholas Reed die Dokumentation The Lady in Number 6 über das Leben Herz-Sommers. Der 38-minütige Film ist für einen Oscar nominiert, der am kommenden Sonntag verliehen wird. ja