Amsterdam

Persona non grata

Einem Forscher wird der Zutritt zur Synagoge verwehrt, weil er einen Film über Spinoza drehen will

von Jérôme Lombard  21.12.2021 10:43 Uhr

Wurde 1656 mit dem Bann belegt: Baruch de Spinoza Foto: imago/Leemage

Einem Forscher wird der Zutritt zur Synagoge verwehrt, weil er einen Film über Spinoza drehen will

von Jérôme Lombard  21.12.2021 10:43 Uhr

»Nach dem Urteil der Engel und der Aussage der Heiligen verbannen, verfluchen, verwünschen und verdammen wir Baruch de Spinoza. Er sei verflucht bei Tag und verflucht bei Nacht, verflucht sein Hinlegen und verflucht sein Aufstehen, verflucht sein Gehen und verflucht sein Kommen.« Mit diesen Worten verbannten die Rabbiner der Esnoga, der Portugiesisch-Israelitischen Synagoge von Amsterdam, im Jahr 1656 Baruch de Spinoza aus der jüdischen Gemeinde.

Der damals 23 Jahre alte Sohn sefardischer Einwanderer aus Portugal hatte mit talmud- und religionskritischen Äußerungen in seiner Heimatstadt den Groll der Geistlichkeit auf sich gezogen. Später sollte Spinoza durch seine Schriften, in denen er die Überzeugung vertrat, dass die menschliche Vernunft über den göttlichen Willen zu stellen sei, eine Zäsur in der Philosophiegeschichte einleiten – und weit über die Niederlande hinaus als Gelehrter der Aufklärung bekannt werden.

Forschung Yitzhak Melamed beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Ideen und Werk des niederländischen Philosophen. Der im israelischen Bnei Brak geborene Wissenschaftler hat Geschichte und Philosophie in Tel Aviv und Yale studiert und lehrt zurzeit an der Johns Hopkins University in Washington.

Ende November wollte Melamed nach Amsterdam reisen, um in den Räumen der Esnoga zusammen mit einem Filmteam eine Dokumentation über Spinoza zu drehen. Doch dazu sollte es nicht kommen. Melameds Bitte um Zugang wurde von Gemeinderabbiner Joseph Serfaty zurückgewiesen – mit Verweis auf den jahrhundertealten Spinoza-Bann von 1656.

Melameds Bitte um Zugang wurde von Gemeinderabbiner Joseph Serfaty zurückgewiesen – mit Verweis auf den jahrhundertealten Spinoza-Bann von 1656.

»Die Chachamim und Parnassim von Kahal Kados Torah haben Spinoza und seine Schriften mit dem strengsten möglichen Verbot exkommuniziert, einem Verbot, das für alle Zeiten in Kraft bleibt und nicht aufgehoben werden kann«, schreibt Serfaty in einem Brief an Melamed unter Verwendung der hebräischen Wörter für die Gemeindevorsitzenden.

jeschiwa »Sie haben Ihr Leben dem Studium der verbotenen Werke Spinozas und der Entwicklung seiner Ideen gewidmet«, heißt es mit Bezug auf Melamed weiter. Vor diesem Hintergrund könne der Historiker in der Esnoga und der Jeschiwa »Ets Haim« nicht willkommen geheißen werden. »Ich lehne daher Ihren Antrag ab und erkläre Sie zur Persona non grata im Komplex der Portugiesischen Synagoge«, schreibt Serfaty.

Melamed veröffentlichte den Brief des Rabbiners auf seiner Facebook-Seite – und löste damit in den Niederlanden einen medialen Aufschrei aus. Wie könne es sein, dass ein religiöser Bann aus dem 17. Jahrhundert einen Wissenschaftler im 21. Jahrhundert an seiner Forschungsarbeit hindert, empörte sich der israelisch-niederländische Rabbiner und Spinoza-Kenner Nathan Lopes Cardozo in einem offenen Brief an Serfaty. Dessen Schreiben an Melamed sei eine Schande, die Betitelung des Wissenschaftlers als Persona non grata eine »enorme Beleidigung und Chutzpa«.

»Es scheint, dass Sie nicht wissen, dass bereits der ehemalige Oberrabbiner von Israel, Yitzhak HaLevi Herzog sel. A. (1888–1959), erklärt hat, dass das Verbot der Werke Spinozas nur in Kraft war, solange Spinoza lebte«, schreibt Lopes Cardozo an Serfaty. Die Ansicht, dass das Verbot von Spinozas Werken immer noch gelte, sei Ausdruck von Inkompetenz und Unwissenheit. »Indem Sie ihn (Melamed) aus dem Synagogenkomplex verbannten und ihm dadurch nicht einmal erlaubten, dem Minjan unserer Synagoge beizutreten, haben Sie ein riesiges Chillul Haschem verursacht, Sie haben den Namen Gottes entehrt. Sie haben uns allen, die wir für die Ehre des Judentums kämpfen, großen Schaden zugefügt.«

ENTSCHULDIGUNG Die Gemeindeleitung der Portugiesischen Synagoge war rasch um die Glättung der Wogen bemüht. Michael Minco und Emile Schrijver, Vorsitzende des Verwaltungsrats der Synagoge und Leiter des von der Stadtverwaltung finanzierten Jüdischen Kulturviertels in Amsterdam, baten Melamed in einem Brief um Entschuldigung. Er sei selbstverständlich in der Gemeinde willkommen und könne seine Forschungsarbeit wie gewünscht vor Ort durchführen. Rabbiner Serfaty habe ohne Absprache mit der Gemeindeleitung gehandelt.

Melamed selbst nimmt den »Persona non grata«-Fall gelassen. Der Jüdischen Allgemeinen sagte der Wissenschaftler: »Ich habe echten Respekt vor konsequenten Eiferern, obwohl ich mich frage, inwieweit der Eifer von Rabbiner Serfaty mit der Tatsache vereinbar ist, dass im Laden seiner Synagoge Puppen von Spinoza verkauft werden.«

Melameds Einschätzung nach basiere die Diskussion um den Spinoza-Bann in weiten Teilen auf Mythen. So sei etwa auch 365 Jahre später nicht eindeutig geklärt, wegen welcher Handlungen und Aussagen Spinoza damals tatsächlich aus der Gemeinde ausgestoßen wurde. »Mir scheint, dass eine gesunde Grundeinstellung die Aneignung von Faktenwissen über die Ereignisse erfordert, bevor man sich ein Urteil bildet«, so Melamed.

entschuldigung Mit Blick auf die Entschuldigung der Ge­meindeleitung sagt der Wissenschaftler, dass er weiter vorhabe, die Bibliothek der Portugiesischen Gemeinde zu besuchen – die Esnoga aber nicht. »Was die Synagoge selbst betrifft, so möchte ich niemanden beleidigen, und wenn die winzige Chance besteht, dass meine Anwesenheit eine solche Beleidigung darstellt, ziehe ich es vor, nicht an diesem Ort zu sein«, sagt Melamed.

»Der Fall verdeutlicht die Sprengkraft, die Spinoza in der jüdischen Gemeinschaft in den Niederlanden nach wie vor hat.«

Esther Voet, Journalistin

Aus Sicht von Esther Voet, Chefredakteurin des »Nieuw Israëlietisch Weekblad«, der größten jüdischen Zeitung in den Niederlanden, verdeutlicht der Fall die Sprengkraft, die Spinoza und dessen Schriften in der jüdischen Gemeinschaft im Land nach wie vor hat.

»Die große Mehrheit der Juden in den Niederlanden schämt sich für das Verhalten von Rabbiner Serfaty«, sagte Voet der Jüdischen Allgemeinen. Der Fall habe hohe Wogen geschlagen, da die Esnoga landesweit als ein Symbol für die jüdische Emanzipation stehe. »Die jüdische Gemeinde in den Niederlanden hat überhaupt kein Problem mit Spinoza, es gibt ein breites Interesse an dem Philosophen. Nur die Gemeinde der Portugiesischen Synagogen hat ein Problem«, sagt die Journalistin und verweist auf eine Umfrage aus dem Jahr 2015.

umfrage Damals wollte das »Nieuw Israëlietisch Weekblad« von seinen Lesern wissen, wer die wichtigste jüdische Person in der niederländischen Geschichte ist. Das Resultat war überdeutlich: Spinoza. »Wegen der fanatisch-orthodoxen Position ihrer Rabbiner ist die Gemeinde der Esnoga in den vergangenen Jahren stark geschrumpft«, sagt Voet, die in Amsterdam wohnt. »Viele junge Leute sind ausgetreten und gehen nicht mehr zu den Gottesdiensten in die Esnoga, ich eingeschlossen.«

Sie hofft, dass Melamed nach der Entschuldigung der Gemeindeleitung bald nach Amsterdam kommt und seine Studien zu Spinoza fortsetzt.

Rabbiner Serfaty hat sich inzwischen erneut zu seinem Brief an Melamed geäußert und in einer E-Mail an den Gemeindevorstand um Entschuldigung gebeten – für die Art und Weise, wie der Brief bei dem Wissenschaftler ankam. Den Bann vertrete er weiterhin.

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