Tamara Werschitzkaja lässt Jacke, Schal und Mütze an, ihr Museum ist nur notdürftig geheizt. Dabei hat der Raum, in dem sie steht, eine außergewöhnliche Bedeutung in der jüdischen Geschichte: Hier begann die Flucht der Bielski-Brüder, jener jüdischen Partisanen, die in den weißrussischen Wäldern lebten, dem Holocaust entkamen und dabei über 1.200 Leidensgenossen retteten. »Durch diesen Tunnel sind sie aus dem Ghetto geflohen«, sagt Tamara Werschitzkaja und zeigt auf ein quadratisches Loch im Boden.
Die Leiterin des Heimatmuseums setzte sich dafür ein, dass ihre Einrichtung dieses historische Gebäude, ein unscheinbares, einstöckiges Haus, mietete und hier eine Zweigstelle einrichtete. Dabei interessierte sich noch vor wenigen Jahren niemand in Nowogrudok, einer Stadt mit 30.000 Einwohnern, für die Geschichte der Bielski-Partisanen – wie überhaupt für die jüdische Geschichte der Stadt. »Ich hatte keine Ahnung, dass hier überhaupt Juden lebten, gesteht Werschitzkaja.
Zeitzeugen Erst der Anruf eines Ghetto-Überlebenden kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs machte die Museumsdirektorin darauf aufmerksam. Seitdem hat sie nicht nur Archivmaterial studiert, sondern auch mit vielen Zeitzeugen im In- und Ausland gesprochen. »Die alten Menschen in Nowogrudok haben sich gefreut, dass sie von ihren früheren jüdischen Nachbarn erzählen konnten«, sagt Werschitzkaja. Schulklassen besuchen regelmäßig das Museum. Und der Jugendverband in einem Gymnasium hat sich inzwischen den Namen Tuvja Bielski gegeben – zu Ehren des Anführers der Partisanen.
Tamara Werschitzkaja plant sogar einen Dokumentarfilm über die Bielski-Brüder. Sie wolle damit Fehler korrigieren, die sie in dem Kinostreifen Unbeugsam – Defiance« (2008) entdeckt habe, sagt sie. »Die Kampfhandlungen in dem Kriegsfilm sind übertrieben dargestellt.« So sei es unmöglich gewesen, dass die Partisanen einem deutschen Panzer begegnen. »In den sumpfigen Wäldern Weißrusslands hätte er gar nicht fahren können«, so die Museumsdirektorin. Zum anderen ist sie nicht damit einverstanden, dass der Bond-Darsteller Daniel Craig den Anführer der Partisanen, Tuvja Bielski, mitunter schwach und launisch spielt. »Tuvja hatte eine Mission: Juden zu retten, und die führte er zweieinhalb Jahre lang konsequent aus«, so Werschitzkaja.
Heldenepos Nowogrudok entdeckt die vergessene Vergangenheit wieder – aber der Rest von Weißrussland ist noch längst nicht so weit. Das liegt am autoritär herrschenden Präsidenten Alexandr Lukaschenko. Er hielt bis vor Kurzem an der sowjetischen Geschichtsschreibung fest, die sich für den Holocaust kaum interessierte. Sie wollte den Zweiten Weltkrieg als heldenhaften Kampf der Roten Armee gegen die nationalsozialistischen Besatzer beschreiben und weigerte sich, die Opfer in ethnische Gruppen zu unterteilen. Eine Folge dieser Politik: Unbeugsam – Defiance kam ausgerechnet in Weißrussland nicht in die Kinos.
Dieses Klima begann sich erst vor zwei Jahren zu ändern, als Lukaschenko an einer Gedenkfeier für ein Massaker im Minsker Ghetto teilnahm. Er widmete seine Rede vor allem dem Holocaust. »Die Juden wurden allein dafür getötet, dass sie als Juden geboren worden waren«, erklärte er. Gleichzeitig versprach der Präsident, auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Trostenez im Süden von Minsk einen Gedenkkomplex »von gesamteuropäischer Bedeutung« zu errichten.
Diese Kehrtwende vollzog Lukaschenko vor allem aus Eigennutz: Seit die Beziehungen zu Russland abgekühlt sind, sucht er neue Verbündete, darunter in den USA und Israel. Erst kurz vor der Präsidentschaftswahl im vergangenen Dezember war der israelische Landwirtschaftsminister zu Gast in Minsk. Die von der Regierung gelenkte Presse schrieb über neue Exportchancen für den heimischen Agrarsektor.
Geschichtswerkstatt Für die Holocaust-Forscher hatte Lukaschenkos Rede trotzdem eine große Bedeutung. »In unserem Staat braucht es so ein Signal von oben«, sagt Kuzma Kozak. Der Leiter der Geschichtswerkstatt Minsk – sie wird von der deutschen Stiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft« gefördert – bemüht sich seit Jahren, die jüdische Geschichte Weißrusslands sichtbar zu machen.
Seine Einrichtung ist in einem der wenigen Gebäude untergebracht, die auf dem Gelände des ehemaligen Ghettos übrig blieben. Die Geschichtswerkstatt Minsk veranstaltet Konferenzen, befragt Zeitzeugen und gibt Bücher heraus. Aber eine breite Öffentlichkeit erreicht sie erst seit Lukaschenkos Rede. Kozak und seine Mitarbeiter können nun mit ihrer Ausstellung auch in die Provinz fahren und sie Lehrern zeigen. »Das wäre früher undenkbar gewesen«, sagt er. Plötzlich unterstützen auch Firmen und Institutionen die Geschichtswerkstatt.
Gerade verteilt Kozak an Schulen das erste Lehrbuch über den Holocaust in Weißrussland. Das schmale Bändchen zeigt, wie viel es hier zu erforschen gibt. Gleich im ersten Kapitel stellt es fest, dass von den 940.000 Juden, die vor dem Zweiten Weltkrieg in Weißrussland lebten, rund 700.000 von den deutschen Besatzern getötet wurden. Das Ghetto in Minsk war eines der größten in Osteuropa.
»Es ist gut, dass darüber endlich Bücher erscheinen, wenngleich es immer noch viel zu wenige sind«, sagt Michail Trejster, Vorsitzender der Vereinigung der Ghettoüberlebenden. Trejster veröffentlichte seine Erinnerungen bereits. Sie beschreiben das Ghettogelände so genau, dass die Leser die markanten Gebäude im heutigen Minsk lokalisieren können.
Auch Tamara Werschitzkaja in Nowogrudok profitierte von der Wende in der Geschichtspolitik. Ihre Ausstellung gewann in einem nationalen Wettbewerb, vom Preisgeld konnte sie einen Computer kaufen. Zu den Dreharbeiten für ihren Dokumentarfilm will sie die Kinder und Enkel der Partisanen einladen. »Sie können dann beim Graben mithelfen, wenn wir den Tunnel wiederherstellen«, sagt sie.