Der Umgang mit der eigenen Geschichte ist kein rühmliches Thema für Österreich. Doch inzwischen sind die Dinge in Bewegung gekommen. Eines der sichtbaren Zeichen dafür ist ein seit dem 1. September geltendes Gesetz, das Opfern des NS-Regimes und ihren Nachfahren ermöglicht, die österreichische Staatsbürgerschaft zu erlangen.
Dies ist auch als Zweitpass möglich. Laut österreichischer Gesetzgebung war dies bislang nur in Ausnahmefällen erlaubt und hat immer wieder auch zu politischen Streitereien geführt.
Gesetzgebung Wie Erika Jakubovits, Exekutivdirektorin der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG), sagt, war es seit 20 Jahren ein Anliegen der IKG, dass die entsprechende Gesetzgebung korrigiert werde. »Durch die Novelle sind diese Lücken nun geschlossen«, sagt sie.
Die IKG sei »hoch erfreut«, dass es dazu gekommen sei und dass »viele Menschen, die lange eine österreichische Staatsbürgerschaft haben wollten, diese jetzt haben können«.
Laut dem österreichischen Außenministerium heißt es auf Nachfrage der Jüdischen Allgemeinen, dass bis Ende vergangener Woche mehr als 6000 Anfragen per Online-Fragebogen eingetroffen seien. Eingehen würden die Anfragen in erster Linie bei den Botschaften und Generalkonsulaten in Israel, Großbritannien, den USA und Südamerika.
Abwägung Einer, der über einen österreichischen Pass nachdenkt, ist ein in Jerusalem lebender Musiker, der nicht möchte, dass sein Name in der Zeitung steht. Die Frage, ob er letztlich einen österreichischen Pass beantragen wird, ist für den 48-Jährigen eine Abwägung zwischen Pragmatismus und Gefühl, zwischen Vorteilen, die ein solcher Schritt bieten würde, und einem emotionalen schwarzen Loch in der eigenen Familiengeschichte.
Seine Mutter floh als vierjähriges Mädchen nach dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland aus Wien. Es sind gemischte Gefühle, die ihr Sohn heute gegenüber dieser sich ihm jetzt bietenden Option hegt.
Der Umgang mit der eigenen Geschichte ist kein rühmliches Thema für Österreich. Doch inzwischen sind die Dinge in Bewegung gekommen.
Als Professor und Musiker sei er Mitteleuropa und besonders auch Wien sehr verbunden, so, wie auch seine Mutter und seine Großmutter tief in der mitteleuropäischen Kultur verwurzelt seien, wie er sagt. Vor allem, sagt er, würde ein Schengenpass die Lehr- und Reisetätigkeit in vielerlei Hinsicht erleichtern.
Zweifel Aber vor dem Hintergrund der Geschichte seiner Familie wachsen die Zweifel. Letztlich aber sagt er: »Es ist ja nicht eine Option, auf die ich schon immer gewartet habe und die sich nun endlich bietet.« Schließlich habe er auch gut ohne Schengenpass gelebt.
»Österreich hat sehr spät begonnen, seine Geschichte aufzuarbeiten und die eigenen Täter klar zu benennen. Warum es erst so spät dazu kam, muss aufgearbeitet werden. Außerdem stellt sich die Frage, warum wir die Juden, die Österreich 1938 verlassen mussten, ja, geflohen sind, nach 1945 nicht gebeten haben, zurückzukehren«, sagte Österreichs Parlamentspräsident Wolfgang Sobotka vergangene Woche in einem Interview mit der Jüdischen Allgemeinen auf die Frage, wieso das Gesetz so spät auf den Weg gebracht wurde.
»Wir hätten es gern gesehen, dass das Gesetz vor 20 Jahren gekommen wäre«, sagt Erika Jakubovits von der IKG. »Aber besser jetzt als nie.« Für sie ist es vor allem auch ein symbolischer Akt, denn den Menschen seien in der Schoa nicht nur Leben, Heimat und Besitz genommen worden, sondern vor allem auch die Identität. »Die Staatsbürgerschaft ist eine Form der Wiederanerkennung dieser Identität«, sagt sie.
Identität Für den Jerusalemer Musiker aber ist noch lange nicht ausgemacht, ob er diese Identität auch wirklich haben möchte. Für ihn persönlich sei es lange Jahre unverständlich gewesen, dass Juden etwa einen deutschen Pass annehmen – obwohl selbst seine Frau und die Kinder neben den israelischen auch deutsche Pässe besitzen. Aber er sei heute weicher geworden, sagt er. Vielleicht aber auch pragmatischer.
Mit seiner Mutter werde er das Thema besprechen müssen, weiß er. »Ich denke, sie wird ambivalent reagieren. Unsere Gefühle Österreich gegenüber sind gemischt: Da ist die Identifikation mit der Kultur, da sind viele gute Aspekte – da sind aber auch die Zurückweisung und die Geschichte.« Für seine Mutter, sagt er, sei die Erinnerung wohl einfach nur eines: schmerzhaft.