Treffpunkt

Palatschinken in Manhattan

Schon im Treppenhaus riecht es süßlich nach Wiener Marmelade-Palatschinken. Kaum in die kleine Wohnung eingetreten, ruft der 90-jährige Kurt Sonnenfeld dem Gast in echtem Wienerisch ein freundliches »Servus« entgegen und lacht. Dann wendet er sich wieder seinen Palatschinken zu, die in einer schweren gusseisernen Pfanne brutzeln. Gemeinsam mit seinem Jugendfreund Arnold Greissle-Schönberg bereitet er sie einmal im Monat für die große versammelte Runde zu.

Wer an diesem Mittwochabend das geschäftige Treiben in New Yorks Upper East Side in Richtung 89. Straße zum Stammtisch verlässt, der kann für ein paar Stunden in eine ganz andere Welt eintauchen. In einen deutschsprachigen Salon, in die Welt der Erinnerungen an Flucht, Emigration und den Neubeginn in Amerika. Und in eine redselige und freundliche Runde, die ein großes Stück deutsch-jüdische Zeitgeschichte erlebt hat und davon auf ganz natürliche Art in New York zu berichten weiß.

Gastgeberin Es ist Palatschinken-Mittwoch beim Stammtisch. Obwohl man früh gekommen ist, haben – wie jeden Mittwoch – schon wieder etliche Leute rund um den großen runden Ausziehtisch in Gaby Glueckseligs Wohnzimmer Platz genommen. Auch ohne Gäste wäre dieses Zimmer ziemlich voll: alte Möbel – Sessel, Kommoden, Beistelltische verschiedenster Stilepochen, Bücherregale, deren Bretter sich biegen unter der Last der deutsch- und englischsprachigen Literatur verschiedenster Provenienz.

Die 100-jährige Gastgeberin sitzt in der Mitte. Alte Bekannte werden begrüßt, Neuankömmlinge stellen mitgebrachte Speisen oder eine Flasche Wein auf das Buffet, und wer zum ersten Mal kommt, wird sofort mit den Regeln des Stammtischs vertraut gemacht: »Wir sind hier alle per Du!«, sagt man ihm. »Wir sprechen beim Stammtisch Deutsch, und jeder muss sich beim ersten Besuch mit einer kurzen Rede vorstellen.«

Falls jemand nur Englisch spricht, wird das trotz der zuvor verlautbarten Regel akzeptiert. Doch die wilden Diskussionen schwenken bald zurück ins Deutsche. Denn schließlich ist der Austausch in der im New Yorker Alltag doch sehr vernachlässigten Muttersprache eine der wichtigsten Intentionen dieser regelmäßigen Versammlung.

Um Ruhe zu schaffen und um die Vorstellung von neuen Gästen einzuläuten, hat Gaby Glueckselig eine kleine, alte Messingglocke. Diese verschafft der Grande Dame des Stammtischs augenblicklich Aufmerksamkeit. Und so lauscht dann die ganze Runde für einige Minuten still den Erzählungen und Lebensgeschichten des neuen Gastes. Einzig Kurt und Arnold bringen, in liebevoller Sorge um das leibliche Wohl der Gäste, immer wieder neue Tellerchen mit den eingerollten und mit Aprikosenmarmelade gefüllten Palatschinken ins Wohnzimmer. Mit dem Geschmack der Alten Welt auf der Zunge lässt es sich dann auch gleich viel besser reden. Und nur allzu oft wird beim Stammtisch nicht nur geredet, sondern auch lautstark diskutiert. Es geht um amerikanische Innenpolitik, Antisemitismus in Europa, Israel, Religion oder die neuesten Skandale in der New Yorker Stadtpolitik.

Verlust Oft wendet sich das Gespräch den Reisen von Mitgliedern der Runde nach Europa zu. Denn viele der schon betagten Stammgäste fliegen noch immer regelmäßig nach Deutschland oder Österreich. Bei den Gesprächen tritt dann immer wieder unweigerlich auch die alte Heimat und der Verlust von Verwandten in der Schoa zutage.

So berichtet etwa Miriam Merzbacher von einer Reise nach Österreich zum ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen, in dem ihr Bruder ermordet wurde. Sie selbst ist in Berlin geboren und flüchtete mit ihren Eltern und ihrem Bruder nach Amsterdam. Doch die Stadt erwies sich nur für wenige Jahre als sicherer Zufluchtsort für Juden. Miriam Merzbachers Bruder wurde schon kurz nach der Besetzung der Niederlande nach Mauthausen deportiert. Sie selbst überlebte mit ihrer Mutter die Lager Westerbork und Theresienstadt. Ihr Vater wurde in Auschwitz ermordet.

Bei vielen Gesprächen, die beim Stammtisch geführt werden, sind die Abgründe und Gräben, die das Nazi-Regime aufgerissen hat, bis heute zu spüren.

Unter den in New York Gelandeten ist der Stammtisch seit mehr als 70 Jahren eine Institution. Gegründet wurde er von dem bayerischen Schriftsteller Oskar Maria Graf, einem entschiedenen Gegner der Nazis, und von dem in Wien geborenen Künstler George Harry Asher. Von Anfang an war der Stammtisch ein Anlaufpunkt für jüdische, aber auch für nichtjüdische Emigranten, Künstler und Nazigegner. Oskar Maria Graf hatte schon in Europa Mut bewiesen (und auch eine gewisse Berühmtheit erlangt) durch seinen Aufruf »Verbrennt mich!«. Seine Werke waren nämlich bei den Bücherverbrennungen der Nazis verschont geblieben. Wenig später flüchtete Graf nach New York.

Sich und den anderen Emigranten bescherte er mit seinen regelmäßigen Treffen, die in den 40er- und 50er-Jahren noch in New Yorks Wiener Kaffeehäusern, später aber in deutschen Restaurants in Manhattans Upper East Side stattfanden, einen Anflug von Heimat weit von ihrem früheren Zuhause. Damals sprach man in ganzen Stadtteilen New Yorks Deutsch. Auf der Straße traf man alte Bekannte aus Berlin oder Wien. Jeder hatte seine Wunden. Man hatte sein Hab und Gut zurückgelassen, Familien waren zerrissen, Eltern oder Geschwister von den Nazis ermordet worden. Hunderttausende europäische Juden waren in die USA geflohen – doch viel größer ist die Zahl derer, denen dies nicht gelungen war.

Ritual Mehr als 27 Jahre lang traf sich der Stammtisch dann in Gaby Glueckseligs kleiner Wohnung im Stadtteil Yorkville an der Upper East Side von Manhattan. Bei vielen einst aus Europa Geflohenen ist das wöchentliche Zusammenkommen beim Stammtisch fast zu einem Ritual geworden. Man trifft sich, tauscht sich über aktuelle Themen aus, spricht über Politik, Kultur und Gesellschaft. Oder man erinnert sich gemeinsam an die Kindheit in Europa, an die Flucht vor den Nazis oder den oft schwierigen Neuanfang in Amerika.

Doch der Stammtisch ist nicht nur ein Treffpunkt für Emigranten. Er hat sich auch zu einem familiären open house für deutschsprachige New Yorker jeden Alters entwickelt. Von jungen österreichischen oder deutschen Freiwilligen, die in New York zum Beispiel in jüdischen Museen arbeiten, bis zu europäischen Künstlern, Lehrern oder Wissenschaftlern, die es in die Stadt verschlagen hat.

Neben den regelmäßigen Besuchern, die fast jede Woche da sind, gibt es auch sporadische Gäste, die alle paar Wochen oder Monate auf einen Abend beim Stammtisch vorbeikommen. Viele davon reisen dafür extra an oder kommen immer wieder gerne in die Stadt, auch und gerade, um den Stammtisch zu besuchen. Und so hat sich eine illustre Runde – jedes Mal in leicht veränderter Besetzung – entwickelt, die jeden Mittwochabend die deutsche Sprache mitten in New York wiederaufleben lässt und auch einen interreligiösen Austausch und generationsübergreifende Freundschaften ermöglicht.

Kurt Sonnenfeld etwa pflegt viele gute Freundschaften mit jungen und alten Menschen beim Stammtisch. Er kommt fast jede Woche mit der Subway aus Queens zu Gaby nach Manhattan. Und er erzählt gern aus seiner Kindheit in Wien, wo er 1925 geboren wurde. Nach dem »Anschluss« 1938 flüchtete er mit seinen Eltern Walter und Rosa Sonnenfeld auf abenteuerlichste Weise illegal über die Schweiz nach Paris. Die Familie musste über die Alpen nach Frankreich fliehen. Mit viel Glück schafften sie es zwei Jahre später von Frankreich über Spanien und Portugal nach New York. Seine Kindheit in Wien, die politische Tätigkeit seines Vaters als Nazi-Gegner in der Sozialdemokratie, die ungewissen und schwierigen Jahre als jüdisches Flüchtlingskind in Frankreich und die beschwerliche und abenteuerliche Emigration nach Amerika haben dem heute 90-Jährigen aber keineswegs die Laune verdorben. Denn selbst, wenn die Themen ernst sind, schafft es Kurt immer mit seiner charmanten Wiener Art, die Leute um sich zum Lachen zu bringen.

Generationen Und so zieht die gesellige Runde des Stammtischs bis heute Menschen unterschiedlicher Generationen, Religionen und Nationalitäten an und bringt sie zusammen. Mit Stolz berichten die regelmäßigen Besucher, dass der Stammtisch deutschsprachiger Emigranten in New York allen Stürmen politischer oder meteorologischer Natur getrotzt habe und seit den 40er-Jahren fast kein einziges Mal ins Wasser gefallen sei. Bei Regen, Sturm, Schnee, Hurricane oder auch an Feiertagen – immer fanden sich ein paar Menschen an diesem ganz besonderen Treffpunkt ein, um gemeinsam zu reden, zu lachen und zu feiern.

So verwundert es kaum, wenn die 1914 in Wiesbaden geborene Gastgeberin Gaby Glueckselig stets zu sagen pflegte, dass der Mittwoch für sie der Mittelpunkt der Woche sei. Denn insbesondere in den letzten Jahren drehte sich ihr Leben um diesen Wochentag, an dem sich ihre kleine Wohnung mit Menschen, spannenden Geschichten, Diskussionen und mit prallem Leben füllte.

Vor wenigen Wochen,
am späten Abend des 22. April, starb Gaby Glueckselig. Fünf Tage später wäre sie 101 Jahre alt geworden. Und wahrlich: Bis zu ihrem Lebensende blieb Gaby eine großartige Gastgeberin. Sie starb, als ob sie ihren letzten Stammtisch abgewartet hätte, an einem Mittwochabend – nur 20 Minuten, nachdem sie ihre letzten Besucher verabschiedet hatte. Mit Sicherheit würde es Gaby Glueckselig freuen, zu wissen, dass der Stammtisch weiterleben wird und bei ihrer jahrzehntelangen Freundin Trudy Jeremias vorerst ein Zuhause gefunden hat. Ein neues Kapitel muss aufgeschlagen werden. Bei aller Zuversicht, dass er auch an neuen Orten abermals aufblühen kann – Gaby Glueckseligs Stammtisch wird es so nicht mehr geben. Es ist das Ende einer Ära.

Von Emil Rennert (Text) und Shani Bar On (Fotos) erschien kürzlich der Bildband »Fast schon ein Ritual. Gaby Glueckseligs Stammtisch der Emigranten in New York«. Edition Exil, Wien 2015, 112 S., Deutsch/Englisch, 18,50 €

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