Die Mutprobe führt direkt in die Arme des Superstars, das war damals der Plan: Eine Gruppe junger Bewerber für einen Posten im tschechoslowakischen Rundfunk beugt sich in einem Raum über Prüfungsaufgaben, als auf einmal ein Telefon auf der Fensterbank klingelt. Der Prüfer wurde kurz zuvor aus dem Raum gerufen, obwohl er einen wichtigen Anruf erwartet – und jetzt sitzen alle wie erstarrt da und blicken auf das Telefon. Bis einer der Prüflinge all seinen Mut zusammennimmt und den Hörer abhebt. »Kommen Sie mal hoch«, schallt es ihm im Befehlston entgegen, und er ahnt noch nicht, dass sich in dieser Sekunde sein Leben verändert.
Das ist eine der Schlüsselszenen im Kinofilm Vlny, der als tschechischer Kandidat für den Oscar gehandelt wird: der erste Auftritt von Milan Weiner. Jeder in der Tschechoslowakei des Jahres 1968 kannte seinen Namen, seine Redaktion im tschechoslowakischen Rundfunk legte sich immer wieder mit den kommunistischen Machthabern an, umging die Zensur, erkämpfte sich Schritt für Schritt neue Freiheiten. Bei den Radiohörern genossen die Sendungen von Milan Weiner bald Kultstatus – er wurde zu so etwas wie der Galionsfigur der Pressefreiheit in einem Land, in dem die Kommunisten jedes Wort kontrollieren wollten.
Die Bewerber über den Prüfungsbögen wollen einen Platz in seinem legendären Team – und ausgewählt wird derjenige, der ans Telefon geht. Der den Mut aufbringt, aufzustehen und den Hörer abzuheben, obwohl alle still dasitzen. Dieses Filmbild eines Raumes voll braver Duckmäuser ist eine Parabel auf die bleierne Zeit, in der jede noch so harmlose Nonkonformität, jeder kleinste Akt des Verantwortung-Zeigens, als mutige Handlung galt.
»Sie haben den Job«
Auf der Leinwand ändert sich schlagartig die Atmosphäre, als Milan Weiner erstmals ins Bild kommt: ein charismatischer Anführer inmitten seiner Mitarbeiter, der Herr über eine Redaktion, in der offen gesprochen und frech gescherzt wird. Der König einer Insel der Freiheit. »Sie haben den Job«, ruft er dem Bewerber entgegen, der sich ans Telefon traute: »Willkommen im Team!«
Vlny – zu Deutsch: Wellen – ist in Tschechien und der Slowakei der meistdiskutierte Kinofilm des Jahres. Ein Agenten-Stück, in dessen Mittelpunkt das Reporterteam um Milan Weiner steht. »Internationales Leben« hieß seine Sendung, eines der meistgehörten Formate im Tschechoslowakischen Rundfunk zu jener Zeit, die als Prager Frühling in die Geschichtsbücher eingehen wird. In der Phase um das Jahr 1968, als die kommunistischen Machthaber mehr Freiheiten zuließen, als in der kommunistischen Partei die Fortschrittlichen die Oberhand über die Hardliner gewannen.
Im Film werden wahre Begebenheiten mit fiktiven Handlungssträngen verknüpft – mit einer Liebesgeschichte im Reporterteam etwa und anderen erzählerischen Kunstgriffen. Aber Milan Weiner und sein heldenhaftes Team gab es tatsächlich. »Ich habe damals miterlebt, wie er in der Redaktion weitere ausländische Quellen etabliert hat«, erinnert sich seine Tochter Jana Smidova im Gespräch mit tschechischen Journalisten. Sie war damals selbst als Redakteurin mit an Bord: »Wir mussten dadurch nicht mehr nur auf sowjetische Quellen und die tschechoslowakische Nachrichtenagentur zurückgreifen, sondern hatten auf einmal auch Zugang zu internationalen Agenturen wie AFP und Reuters. Das war damals eine echte Sensation, die aber nur jemand ermessen kann, der das knallhart kommunistische Milieu erlebt hat.«
Am berühmtesten ist ein Husarenstück, das Weiner live in einer Sendung gelang: Als sich ein kommunistischer Funktionär aus der Provinz über Weiners Kommentare beschwerte, lud dieser ihn in die Sendung ein, damit der Funktionär dort seine Meinung vertreten könne – und nahm ihn dann nach allen Regeln der Kunst mit kritischen Nachfragen dermaßen auseinander, dass der Funktionär am Ende entlarvt und völlig demontiert das Studio verließ. Das Jahr 1968 markierte den Gipfel der Popularität von Milan Weiner.
Er wurde 1924 als Sohn einer jüdischen Familie in Prag geboren. 1940 warf man ihm vom Gymnasium, weil er jüdisch war, 1942 wurde er verschleppt – erst nach Theresienstadt, dann nach Auschwitz und Buchenwald. Weiner konnte am Ende des Krieges einem Todesmarsch im damaligen Sudetenland entkommen. Sein Vater – auch er ein Journalist – beging Selbstmord, um der Deportation zu entgehen. Weiner verlor außerdem seinen Bruder, seinen besten Freund und seine Freundin.
Sie sendeten aus versteckten Zimmern und Untergrundstudios überall im Land.
Nach dem Krieg war er überzeugter Kommunist, arbeitete als Korrespondent für die Parteizeitschrift in Peking und wurde von dort 1952 abberufen – wiederum mit der Begründung, dass er Jude sei. Es war die Zeit der antisemitischen Prozesse in der kommunistischen Tschechoslowakei. 1963 übernahm er im nationalen Rundfunk die Leitung der Redaktion »Internationales Leben« – jener Truppe von Journalisten, die in ihrer Arbeit immer wieder die Schmerzgrenzen des Regimes austesteten. Einer von ihnen war übrigens Jiri Dienstbier, der einige Jahrzehnte später, nach der politischen Wende, zum Außenminister des Landes werden sollte.
Jiri Madl, der Regisseur des Films, blickt mit den Augen der Nachgeborenen auf die Geschehnisse: Er ist Ende 30, und trotzdem oder gerade deshalb faszinierte ihn die Geschichte um Milan Weiner sofort, als er zum ersten Mal von ihr hörte. Denn am 21. August 1968, einem Schicksalstag für die Tschechoslowakei, hatten die Geschehnisse eine dramatische Wendung genommen. Damals marschierten die Warschauer-Pakt-Truppen ein, um den Prager Frühling niederzuschlagen – für Moskau ging es zu weit, wie sehr die Freiheit in der Tschechoslowakei blühte. »Heute wissen die meisten, dass die Okkupanten gleich zu Anfang Prag besetzt und sich dort zuerst auf den Rundfunk gestürzt haben«, sagte Jiri Madl bei der Premiere des Films. »Aber warum der Rundfunk trotzdem noch sechs Tage weitergesendet hat – das wissen die Leute nicht mehr. Mir kommt es vor, als sei da ein Loch in der Wahrnehmung.«
Ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Sowjets
Tatsächlich nahmen damals Sturmtruppen das Rundfunk-Gebäude mitten in Prag ein, sie besetzten es mit geballter Militärmacht, um die Nachrichten zu kontrollieren. Aber über den Sender liefen trotzdem immer weiter »echte« journalistische Nachrichten: darüber, wo die Besatzer in der Tschechoslowakei vorrückten, wie viele Tote und Verletzte ihr Einmarsch forderte, wie sich die legitime Regierung zur Besatzung äußerte. Es war die Redaktion um Milan Weiner, die das kleine Wunder vollbrachte: Ein Katz-und-Maus-Spiel lieferten sie sich mit den Russen, sie sendeten zuerst aus versteckten Zimmern in der Sendezentrale und dann aus kleinen Untergrundstudios überall im Land. Die Menschen in der Tschechoslowakei hingen an den Radiogeräten: Sie ahnten, dass sie den Kampf verlieren würden, aber sie alle drückten, solange es noch ging, den Reformern in der Prager Regierung die Daumen – und den widerspenstigen Journalisten im Rundfunk.
Es war eine Sternstunde der Pressefreiheit, und das Heroische daran steht im Mittelpunkt des Films. »Wenn jemand denkt, dass jeder Journalist sein kann, dann haben wir ein Problem. Es ist ein Handwerk«, sagt Regisseur Jiri Madl, und er schlägt den Bogen in die Gegenwart: »Bei den öffentlich-rechtlichen Medien – auch wenn man mit vielem nicht einverstanden ist – ist aufgrund ihrer Konstruktion die Wahrscheinlichkeit am größten, dass sie nicht denjenigen dienen, die gerade an der Macht sind. Sobald jemand dieses System antastet, wird es gefährlich.«
»Uns wäre nie in den Sinn gekommen, dass unsere Arbeit so aktuell werden würde.«
Tatiana Pauhofova
Es sind Worte, die nicht auf die historische Dimension zielen, sondern auf die aktuelle Debatte: In Tschechien und der Slowakei nämlich ist der Film zum Politikum geworden. Gerade eben erst hat in der Slowakei die Regierung aus Linkspopulisten und Nationalisten den öffentlich-rechtlichen Rundfunk kurzerhand aufgelöst und in einen Staatssender verwandelt.
Eine der Hauptdarstellerinnen im Film ist die Slowakin Tatiana Pauhofova. »Als wir den Film vor einem Jahr gedreht haben, war die Situation noch eine andere – und uns wäre nie in den Sinn gekommen, dass unsere Arbeit so aktuell werden würde«, sagte sie kurz nach der Premiere. Mittlerweile zählt sie zu den Wortführern der Proteste gegen die Maßnahmen der slowakischen Regierung. Die mischt sich in die Programmgestaltung von Hörfunk und Fernsehen ein, besetzt Schlüsselposten mit Parteigängern und überzieht den gesamten Kulturbetrieb mit Kahlschlägen. Pauhofova zieht eine direkte Parallele zum Film: »Viele Leute haben vergessen oder wollen es zumindest nicht sehen, dass Eingriffe in die Freiheit noch nie positive Folgen für die Gesellschaft hatten. Es ist gut, sich das im Rückblick zu vergegenwärtigen.«
Milan Weiner, der Held des Films, überlebte die dramatischen Ereignisse im August 1968 nur um wenige Monate: Er starb schon 1969 mit gerade einmal 44 Jahren an einem Hirntumor. In Vergessenheit geraten ist er nicht: Der Film Vlny macht ihn auch für eine Generation zum Helden, die damals noch nicht auf der Welt war. Und sein Mut, die journalistischen Prinzipien hochzuhalten, wenn diese angegriffen werden – der ist heute wieder so wichtig wie damals.