Mit beiden Armen fest umschlungen, trägt der Rabbiner eine kunstvoll verzierte Tora durch die aus Wellblech und Plastikfolie zusammengezimmerte Synagoge. Die Baracke erinnert eher an eine schäbige Lagerhalle als an ein Gotteshaus. Aufgewirbelter Staub vermischt sich mit Schweiß, läuft dem Geistlichen in Rinnsalen über die dunkle Haut. Fast 100 Kinder und Jugendliche zerren an ihm, versuchen, die Schriftrolle zu berühren. In Ekstase rufen sie immer wieder »Jerusalem, Jerusalem!« Doch 2.150 Kilometer trennen sie vom ersehnten Ort.
Sie sind die Nachfahren der letzten äthiopischen Juden, feiern hier jede Woche Schabbat und träumen Tag und Nacht davon, Alija zu machen. Micha Feldmann kämpft seit beinahe 30 Jahren dafür, dass dieser Traum irgendwann Wirklichkeit wird. Er ist das Kind Holocaust-Überlebender, denen es in letzter Sekunde gelungen war, aus Nazi-Deutschland zu fliehen und in Eretz Israel eine neue Heimat zu finden.
Auffanglager Es ist der 21. November 1984. Auf dem Ben-Gurion-Flughafen Tel Avivs landet eine Boeing 707, die erste Maschine der sogenannten Operation Moses. In den nächsten 46 Tagen werden 30 Flugzeuge ankommen, um 6.364 äthiopische Juden hierherzubringen.
Vor und während der Hungerkatastrophe, die 1984 und im Jahr darauf mehr als eine Million Menschen das Leben kostet, ist ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung Äthiopiens in den Sudan geflohen. Tausende Kinder, Frauen und Männer sterben während endloser Märsche oder in den Auffanglagern. Ihnen ist nicht gelungen, was die 283 verängstigten Kranken, Alten und Kinder an Bord der israelischen Maschine geschafft haben.
Micha Feldmann, bei der Jewish Agency für die Integration äthiopischer Zuwanderer zuständig, betritt als einer der Ersten die Kabine. »Kaum hatte ich die Tür erreicht, schlug mir der Gestank von Urin und Exkrementen entgegen«, heißt es in seinem Tagebuch.
Er trägt eine abgemagerte Frau aus dem Flugzeug, sie wiegt gerade einmal 35 Kilo. Ohne Infusion hätte sie den Flug aus Afrika in die neue, fremde Heimat nicht überlebt. »Ich spüre, Teil eines Unternehmens zu sein, das die Grundfesten des Staates Israel ausmacht: Die Rettung von Juden, weil sie Juden sind. Es ist die Antwort auf den Mord an Juden, weil sie Juden waren.« Doch wer sind diese dunkelhäutigen Menschen, denen Feldmann hier zum ersten Mal begegnet und deren Rettung er fortan als seine persönliche Mission betrachten wird?
Haus Israels Unter den Juden Äthiopiens, die sich selbst Beta Israel (Haus Israels) nennen, erzählt man diese Geschichte: »Unsere Väter kamen aus dem Westen, und eines Tages werden wir in den Westen zurückkehren.« Viele Historiker glauben, dass die sogenannten Falascha Nachfahren der Juden sind, die vor der Zerstörung des ersten Tempels nach Ägypten und später flussaufwärts bis an die Quelle des Blauen Nils zogen, während andere sie für die Nachfahren aus dem Gefolge des legendären äthiopischen Kaisers Meneliks I., des Sohnes König Salomons und der Königin von Saba, halten.
Wo auch immer sie herkamen, das Leben der Juden im äthiopischen Hochland war hart. Im 17. Jahrhundert wurde ihnen das Recht auf eigenen Landbesitz entzogen. Wenn sie Grund von ihren christlichen Nachbarn pachteten, mussten sie ihnen häufig die Hälfte der Ernte abtreten. In ihren Gebeten erflehten sie die Rückkehr in die spirituelle Heimat.
Auszug Im Jahr 1862 beließen sie es nicht mehr dabei. Tausende schlossen sich dem jüdischen Mönch Aba Mahari an. Der hatte sich selbst zum Messias erklärt, versprach, die Falascha nach Israel zu geleiten. Als er jedoch die Fluten teilen und seine Gefolgschaft nach dem Vorbild Moses’ wie beim Auszug aus Ägypten durch Wasser führen wollte, starben Unzählige von ihnen. Über ein Jahrhundert kam die Alija aus Äthiopien zum völligen Stillstand.
Erst 1977 schloss der israelische Premierminister Menachem Begin mit dem äthiopischen Diktator Mengistu Haile Mariam, der drei Jahre zuvor Kaiser Haile Selassie gestürzt hatte, einen Geheimpakt. Maschinen der israelischen Luftwaffe sollten fortan dem Regime Waffen liefern und im Gegenzug äthiopische Juden ausfliegen. Doch es dauerte nicht lange, bis der Deal aufflog. Erst mit der Operation Moses gelang die Massenflucht. Danach blieben aber immer noch rund 15.000 Juden in Äthiopien zurück.
Für Feldmann, vor dem Hintergrund seiner eigenen Biografie, ein unerträglicher Zustand. Vor 21 Jahren dann wurde der vierfache Vater, der neben Hebräisch und der Landessprache Amharisch auch fließend Deutsch, Jiddisch, Englisch und Französisch spricht, von der Jewish Agency nach Äthiopien geschickt, um die restlichen Juden nach Israel zu holen. »Mir erscheint die Mission, auf der ich mich jetzt befinde, die wichtigste Sache der Welt zu sein«, schreibt er am 20. Januar 1990, kurz vor der Landung in der Hauptstadt Addis Abeba, in sein Tagebuch.
Geheimsache Um diese Mission zu erfüllen, ist dem Israeli jedes Mittel recht. Als eine Rebellenarmee unter Führung des heutigen Premierministers Meles Zenawi die Schlinge um Addis Abeba immer enger zieht, flieht der kommunistische Diktator Mengistu Haile Mariam am 21. Mai 1991 zu Robert Mugabe nach Zimbabwe. Nicht, ohne zuvor noch ein weiteres geheimes Abkommen mit Israel geschlossen zu haben. 35 Millionen Dollar soll ihm die Jewish Agency auf ein Konto in New York einzahlen. Im Gegenzug würden die Soldaten des stürzenden Diktators Israel garantieren, alle Ausreisewilligen passieren zu lassen.
»Mengistu war ein grausamer Diktator, der viele Menschen mit eigenen Händen getötet hat. Aber mir war das egal, ich wollte nur die Juden retten. Von mir hätte Mengistu dafür nicht nur Geld, sondern auch Waffenlieferungen bekommen. Aber zum Glück haben damals Leute, die klüger waren als ich, die Verhandlungen geführt«, erinnert sich Feldmann fast 20 Jahre später in Addis Abeba. Dass das vereinbarte »Lösegeld« am Ende doch nicht Mengistu in die Hände fiel, freut ihn noch heute.
Am 24. Mai war es dann so weit. Es war der Tag, an dem Micha Feldmann und sein Team Geschichte schrieben. Mit 18 Lockheed Martin C-130J Super Hercules-Maschinen der israelischen Luftwaffe, drei El- Al-Jumbos sowie 15 Luftwaffen- und El-Al-Boeings mussten binnen 36 Stunden 14.310 Menschen nach Israel ausgeflogen werden. Um mehr Leute in die Maschinen pferchen zu können, wurden aus allen Flugzeugen die Sitze ausgebaut.
Die Herkules konnte auf diese Weise anstatt der vorgesehenen 92 Personen 190 transportieren, die Boeing 707 statt der üblichen 180 Menschen 570. In einem Jumbo sollen es am Ende der Operation sogar 1.087 Passagiere, darunter ein Baby, das an Bord zur Welt kam, gewesen sein – ein bis heute ungebrochener Rekord.
tagebuch Tausende hatten sich schon in der Nacht zuvor auf dem Gelände der israelischen Botschaft eingefunden. Um 4.30 Uhr setzte die erste Hercules-Maschine am Rollfeld in Addis auf. Feldmann hatte kein Auge zugetan. Was, wenn die Rebellen sich nicht an die Abmachung hielten, die äthiopische Hauptstadt erst einzunehmen, wenn der letzte Jude das Land verlassen hatte?
»Mir gingen die Bilder von mit Kalaschnikows und Handgranaten bewaffneten Soldaten, die den Flughafen stürmen könnten, nicht aus dem Kopf. Dann hätten wir unsere Juden mit tränenüberströmten Gesichtern wieder nach Hause schicken müssen«, schrieb er ins Tagebuch.
Doch die Rebellen respektieren die Vereinbarung, harren in ihren Stellungen vor der Hauptstadt aus. Als Feldmann um elf Uhr nachts zum Flughafen kommt, sind dort bereits 19 israelische Maschinen gestartet, haben fast 8.000 Menschen nach Israel gebracht. »Der Exodus geschah direkt vor meinen Augen. Die Alija, von der ich so lange geträumt hatte, wurde Wirklichkeit«, erinnert sich der willensstarke Mann.
salomon Am nächsten Morgen verlässt er Äthiopien mit der letzten Hercules der Operation Salomon. Einer der vier Motoren ist ausgefallen. Feldmann stört das nicht. Er will nur noch nach Hause. Fast eineinhalb Tage lang hat er weder gegessen noch geschlafen. Als er sechs Stunden später auf dem Ben-Gurion-Flughafen landet, ruft er als Erstes seine Frau an: »Wir haben es geschafft. Das ist das Ende«, spricht er erschöpft, aber überglücklich in den Hörer.
Für Micha Feldmann aber ist der erfolgreiche Ausgang der Operation Salomon noch lange nicht das Ende. Einen Monat später reist er nach Dachau, um deutschen Juden davon zu berichten. Vor den Krematorien des Konzentrationslagers kommen die Bilder der Evakuierungsaktion plötzlich mit voller Wucht zurück.
stolz »Ich bin so stolz, als Bürger Israels an dieser Operation teilgenommen zu haben. Weil der Staat Israel existiert, wird es nie wieder ein Dachau, nie wieder eine Selektion von Juden geben, nie wieder eine Auswahl, wer leben und wer sterben wird«, notierte Feldmann damals in sein Tagebuch.
Doch selbst 20 Jahre nach diesem Besuch lässt das Schicksal der äthiopischen Juden ihn nicht los. Noch immer leben rund 8.000 Falaschmura, Juden, die – teilweise unter Zwang – zum Christentum konvertierten, unter menschenunwürdigen Bedingungen im zwölftärmsten Land der Welt.
Feldmanns Mission wird erst dann erfüllt sein, wenn auch sie im Heiligen Land und in der israelischen Gesellschaft angekommen sind. Mit einer Gruppe Jugendlicher, deren Mütter und Väter in Äthiopien geboren sind, ist Feldmann jetzt nach Addis Abeba zurückgekehrt, um den jungen Israelis das Land ihrer Eltern zu zeigen.
»Einmal Jude, immer Jude. Ich hoffe, dass wir spätestens in zwei Jahren den letzten Nachfahren nach Israel geholt haben. Das ist unsere Antwort auf die Nürnberger Gesetze. Die Nazis hätten Menschen mit gleichem Verwandtschaftsgrad in die Gaskammern geschickt, wir geben ihnen das Recht, nach Israel zu kommen«, sagt Feldmann. Und als überzeugter Zionist versichert er: »Deutschland ist nicht der geeignete Ort für uns. Der einzig richtige Ort, das ist Israel.«
Micha Feldmann wurde am 1. Januar 1944 in Palästina geboren. Seine Eltern waren 1939 in letzter Sekunde aus Deutschland geflohen. Nach der Barmizwa des Sohnes kehrte die Familie für sieben Jahre nach Köln zurück. Heute lebt Feldmann mit seiner Frau und vier Kindern wieder in Israel. Im Auftrag der Jewish Agency war er maßgeblich für die Operation Salomon verantwortlich, eine israelische Militäraktion, während der mehr als 14.310 äthiopische Juden im Mai 1991 binnen 36 Stunden ins Heilige Land ausgeflogen wurden. Sie vervollständigte die Operation Moses, bei der sechseinhalb Jahre zuvor bereits knapp 6.500 Menschen heimlich umgesiedelt worden waren.