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Olympiasiegerin mit Haltung

Go for Gold: Aly Raisman Foto: AP Photo

Jedes Mal, wenn Alexandra »Aly« Raisman an die Matte tritt, muss sie sich selbst daran erinnern, dass sie doch die amtierende Olympiasiegerin ist. Nur so, gesteht sie, gehen die ständigen Selbstzweifel weg, die Versagensangst, die sie unaufhörlich plagt und die sie antreibt.

Am vergangenen Sonntag hat Raisman sich noch öfter und eindringlicher als sonst daran erinnert, dass sie niemandem etwas zu beweisen braucht. Und es hat gewirkt. Von einem kleinen Wackler auf dem Schwebebalken abgesehen war ihr Vorkampf in Rio makellos – die 22-jährige Turnerin aus Boston hat sich in die beste Ausgangslage manövriert, um ihre beiden Goldmedaillen von London zu verteidigen.

Dabei wirkte die bekennende Selbstzweiflerin so souverän, wie man sich das nur vorstellen kann. Sowohl in der Bodenübung als auch in der Gesamtwertung musste sie sich nur einer geschlagen geben: dem neuen Turn-Wunderkind Simone Biles aus ihrer eigenen Mannschaft. Nicht für einen Moment war zu sehen oder zu spüren, wie schwer es für Raisman war, wieder an diesen Punkt zu kommen, wieder im olympischen Rampenlicht zu stehen, wieder zu den Besten der Welt zu gehören. Nichts an ihrer schwebenden Leichtigkeit über dem Hallenboden von Rio verriet den inneren Kampf, die Entbehrungen, die Höhen und Tiefen eines Comebacks, das in Turnerkreisen als nahezu unmöglich galt.

weltstar Nur die wenigsten Turnerinnen schaffen es, zu zwei Olympischen Spielen zu fahren. Zu gnadenlos ist das Training für Körper und Seele, als dass junge Frauen das ein zweites Mal auf sich nehmen, nachdem sie es einmal geschafft haben. Und auch Aly Raisman hat sehr mit sich gerungen, ob sie sich das noch einmal antun will.

Niemand hätte es ihr übel genommen, wenn Raisman nach London einen Schlussstrich gezogen hätte. Die Spiele von London wären ein perfekter Abschluss für jede Sportlerlaufbahn gewesen. Raisman gewann an jenem Tag im August 2012 Sympathien aus aller Welt – und das nicht alleine wegen ihrer fehlerfreien Bodenkür, bei der sie bislang für unmöglich gehaltene Schwierigkeiten mit scheinbarer Leichtigkeit meisterte. Es war auch die Haltung, die sie mit der Übung – weit über das Sportliche hinaus – zum Ausdruck brachte, und die sie über Nacht zum Weltstar machte.

Schon lange vor den Londoner Spielen hatte Raisman zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Trainer, dem ehemaligen israelischen Nationalcoach Mihai Brestyan, den Gassenhauer Hava Nagila als Musik für ihre Gold-Kür ausgewählt. Sie wollte ein Stück, erzählt sie, bei dem das Publikum mitklatschen kann. Das habe ihr schon immer Energie und Mut gegeben.

andenken Was diese Musikwahl in London auslösen würde, konnte damals noch niemand aus dem Team von Raisman ahnen. Raismans Bodenfinale fiel ausgerechnet auf den 40. Jahrestag des Anschlags auf israelische Sportler während der Spiele von München. Raismans Bodenkür zu Hava Nagila wurde zur politischen Geste, zum emotionalen Andenken an die Ereignisse von damals und zur Verneigung vor den Opfern. Der Moment wurde noch mehr mit Bedeutung aufgeladen, weil das Internationale Olympische Komitee sich in London geweigert hatte, ein offizielles Andenken an das Attentat von München abzuhalten. Raismans Nagila-Kür wurde zum rebellischen Akt.

Manche Kommentatoren verglichen es mit der Geste der schwarzen amerikanischen Läufer John Carlos und Tommy Smith während der Spiele 1968, als die beiden mit erhobener Faust während der Siegerehrung für schwarze Bürgerrechte demonstrierten.

Noch mehr als mit ihrem Bodentanz beeindruckte die damals erst 18-Jährige jedoch mit der Souveränität, mit der sie später die Situation handhabte. Obwohl die politische Geste nicht ganz freiwillig war, stand sie selbstbewusst dazu. Sie widmete ihre Medaille den Opfern von 1972 und bekannte sich offen zu ihrer jüdischen Identität.

galas Das alles brachte Aly Raisman Sympathien aus der ganzen Welt ein, sie wurde zum Liebling der Spiele von London. Es gab Staatsbesuche in Israel und Talk-Show-Auftritte in New York. Sie wurde auf Galas eingeladen und von Politikern hofiert und schließlich dazu eingeladen, an der TV-Show »Dancing with the Stars« teilzunehmen. Das alles gefiel Aly Raisman sehr gut, insbesondere nach den vielen entbehrungsreichen Jahren in muffigen Turnhallen.

Und doch hatte sie das Gefühl, noch nicht fertig zu sein mit dem Sport. Da war noch ein Hunger, es sich und der Welt noch einmal zu zeigen. Hätte sie gewusst, wie hart der Weg zurück ist, hätte Raisman es sich jedoch vielleicht zweimal überlegt. Olympiasiegerin oder nicht – Aly Raisman musste wieder von ganz unten anfangen.

fitness Sechs Monate lang ließ ihr Trainer Brestyan sie nicht einmal an ein Gerät. Um nach einem Jahr Pause überhaupt wieder die körperlichen Voraussetzungen für Geräteübungen auf Weltklasseniveau zu haben, musste Raisman erst einmal Fitness trainieren. Sechs Stunden pro Tag.

Bis Raisman wieder Anschluss an die Weltspitze fand, dauerte es zwei Jahre. 2015 trat sie erstmals wieder bei einem internationalen Wettkampf an. Und selbst dort, bei den Weltmeisterschaften in Schottland, offenbarte sich noch ein eklatanter Rückstand. Raisman patzte am Stufenbarren, übertrat die Außenlinie am Boden. Sie qualifizierte sich für kein Einzelfinale und musste sich am Ende mit der Mannschaftsmedaille begnügen.

Es war ein wenig so, als ob sich Aly Raismans schlimmste Befürchtungen erfüllten. Sie hatte – zumindest aus ihrer Perspektive – im entscheidenden Augenblick versagt. Also tat sie das, was sie schon immer tat, um diese Angst zu bekämpfen. Sie trainierte noch härter, noch konzentrierter. Außer Training und Schlaf gab es in den vergangenen Monaten nichts in ihrem Leben.

kalinka Mit Erfolg. Am Dienstag gelang ihr im olympischen Team-Finale zusammen mit den anderen US-Turnerinnen ein souveräner Sieg – mit sensationellen 185,897 Punkten deutlich vor Russland und China.

Im Einzelfinale des Bodenturnens am kommenden Mittwoch ist Raisman wieder favorisiert. Zumindest eine Medaille trauen der »Großmutter«, wie die jungen Turnerinnen die 22-Jährige scherzhaft nennen, alle zu.

Um sich dabei in Stimmung zu bringen, hat sie übrigens erneut einen Gassenhauer gewählt – den russischen Volksschlager Kalinka. Hava Nagila lässt sie diesmal bleiben. Doch die jüdischen Fans auf der ganzen Welt muss Aly Raisman ja ohnehin nicht mehr für sich gewinnen.

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