UNGARN

Ohne Druck von deutscher Seite

Sommer 1941: Ungarische Juden werden zur Deportation zusammengetrieben.

Die offizielle Erzählung, wonach Ungarn bis zur deutschen Besatzung am 19. März 1944 für Juden ein sicheres Asylland gewesen sei, ist schlichtweg falsch. Bereits im Sommer 1941 deportierte der ungarische Staat ohne jeglichen Druck von deutscher Seite jüdische Einwohner.

Antisemitismus und Revisionismus waren ab 1919 Grundpfeiler des Horthy-Regimes. Ungarn war das erste Land, in dem eine Regierung nach dem Ersten Weltkrieg wieder ein antijüdisches Gesetz erließ: das sogenannte Numerus-Clausus-Gesetz von 1920, das den Zugang jüdischer Studenten an die Universitäten beschränkte.

KARPATO-UKRAINE Der erste Erlass zur Deportation von Juden wurde am 12. Juli 1941 von der Ausländerpolizei KEOKH auf Anweisung von Innenminister Ferenc Keresztes-Fischer erlassen. Im Juli und August 1941 wurden insgesamt rund 18.000 Menschen, hauptsächlich aus der Karpato-Ukraine, über das Konzentrationslager Körösmezö nach Kolomea und von dort nach Kamenec-Podolsk, rund 50 Kilometer nordöstlich von Czernowitz, deportiert.

Zwei Drittel der vom ungarischen Staat Deportierten waren ungarische Staatsbürger. Aus dem Bericht der deutschen Einsatzgruppe C, einem mobilen Tötungskommando, wissen wir, dass am 27. und 28. August 1941 in dieser Gegend 23.600 Juden von Männern des 320. Polizeibataillons erschossen wurden. Einige der Ermordeten waren Mitglieder der örtlichen jüdischen Gemeinde, etwa 15.000 waren Deportierte aus Ungarn, der Rest entkam wahrscheinlich oder wurde von den örtlichen Behörden zurück nach Ungarn geschickt.

Bereits am 17. Juli 1941 berichtete der US-Botschafter in Budapest, Herbert Pell, über diese grausame Aktion, die mit »alarmierender Geschwindigkeit« durchgeführt wurde. Er informierte auch den Joint, das American Jewish Joint Distribution Committee, darüber, hielt sich aber an die Anweisungen Washingtons und intervenierte lediglich für zwei US-Staatsbürger.

schicksal Das Schicksal der überlebenden Deportierten werde »Verhungern oder Massaker« sein, schrieb Pell unter Berufung auf Berichte der Joint-Vertreter Jacobson und Blum, die nicht wussten, dass sie Nachrichten über eines der ersten Holocaust-Massaker erhalten und weitergegeben hatten.

Die Behörden versuchten, diese Aktion geheim zu halten, und die Zeitungen veröffentlichten dazu nichts. Doch da auch aus Budapest Juden aus dem Westbahnhof mit plombierten Waggons nach Körösmezö gebracht wurden, waren die Deportationen allgemein bekannt.

Am 21. November 1941 fragte der Pfeilkreuzler-Parlamentsabgeordnete Mátyás Matolcsy den ungarischen Außenminister László Bárdossy im Parlament: »Ich kann nicht verstehen, was falsch wäre, wenn die Regierung die Juden wirklich zusammentreiben und ausweisen würde?«

In seiner Antwort verriet Bárdossy: »Nach der Besetzung der ukrainischen Gebiete haben wir eine sehr bedeutende Anzahl von Juden deportiert. Wir wollten noch mehr deportieren, aber das freundliche Deutsche Reich warnte uns davor, dies nicht zu tun. Wir waren gezwungen, uns diesem Wunsch zu beugen.«

ERINNERUNGSPOLITIK Im Jahr 2013 gründete die Regierung Orbán das Historische Institut »Veritas«, um »die ungarische öffentlich-rechtliche Tradition in würdiger Weise zu präsentieren«, wie es offiziell hieß. Das eigentliche Ziel jedoch war, der staatlichen Erinnerungspolitik zu dienen. Zum Leiter des Instituts wurde der Militärhistoriker Sándor Szakály ernannt, dessen revisionistische Ansichten seit fast 20 Jahren heftigen Widerspruch seriöser Historiker auslösen.

In einem Interview mit der ungarischen Nachrichtenagentur MTI sagte Szakály 2014, Juden in Ungarn hätten erst nach der deutschen Besetzung des Landes am 19. März 1944 »bedeutende Verluste« erlitten. Die erste Deportation aus Ungarn im Sommer 1941 nach Kamenec-Podolsk nannte er ein »fremdenpolizeiliches Verfahren« und behauptete: »Als sich herausstellte, dass viele von ihnen ermordet worden waren, erlaubte ihnen Innenminister Ferenc Keresztes-Fischer die Rückkehr nach Ungarn.«

Das offizielle Ungarn gedenkt der Opfer der Deportationen zum Jahrestag nicht.

Diese geschichtsverdrehende Verharmlosung eines Massakers führte dazu, dass jüdische Organisationen Szakálys Abberufung forderten. Doch ohne Erfolg, er leitet Veritas bis heute.

Es wurden Menschen deportiert, die ihre ungarische Staatsbürgerschaft nicht nachweisen konnten, weil die antisemitische Administration dies erschwerte.

Es gab aber auch Fälle, in denen die Staatsbürgerschaftsnachweise von Gendar­men einfach zerrissen wurden. »Veritas«-Historiker leugnen, dass ein ungarischer Gendarm so etwas hätte machen können, denn ein wichtiger Teil der von diesem Institut begangenen Geschichtsklitterung ist die Entlastung der ungarischen Gendarmerie, die im Frühsommer 1944 Juden mit äußerster Brutalität – oft mit Peitschenhieben – in Viehwaggons trieb, deren Ziel Auschwitz-Birkenau war.

MITVERANTWORTUNG Veritas versucht, die politische Kultur des Horthy-Regimes zu polieren. Und weil diese eng mit der Praxis des staatlichen Antisemitismus zusammenhängt, geht es auch um dessen ideologische und moralische Rehabilitation. Diese selbstbeweihräuchernde Sicht der Geschichte ist Bestandteil der »Nationalen Kooperation« (NER) unter Ministerpräsident Viktor Orbán. Sie bemüht sich, die Mitverantwortung des ungarischen Staates am Holocaust abzuschwächen.

Die seit 2010 Regierenden haben deswegen in die Präambel des 2011 beschlossenen Grundgesetzes geschrieben, Ungarn habe am Tag der deutschen Besatzung des Landes, dem 19. März 1944, die »staatliche Selbstbestimmung unserer Heimat« verloren. Erst nach der Wende sei sie am 2. Mai 1990 wiederhergestellt worden.

Doch dank der bislang tolerierten seriösen Forschung wissen wir, dass ohne aktive Mitwirkung der ungarischen Regierung unter Reichsverweser Miklós Horthy und seiner Administration 1944 die Deportation von fast einer halben Million Menschen nach Auschwitz-Birkenau binnen weniger Wochen unmöglich gewesen wäre.

Das offizielle Ungarn gedenkt der Opfer der Deportationen zum 80. Jahrestag nicht. Doch das Budapester Rabbinerseminar und die methodistische John-Wesley-Hochschule werden im Oktober – so wie vor zehn Jahren – in Erinnerung an den Massenmord gemeinsam eine wissenschaftliche Konferenz abhalten.

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