Normalerweise zieht sich vor dem Amsterdamer Anne-Frank-Haus eine lange Warteschlange durch die Prinsengracht. Mindestens zwei Monate im Voraus müssen Besucher ihre Tickets buchen, um das Haus zu besichtigen, in dem das Mädchen Anne Frank von 1942 bis 1944 im Versteck lebte und ihr Tagebuch schrieb, das sie nach ihrem Tod im KZ Bergen-Belsen berühmt machte.
Doch jetzt, da der internationale Tourismus in ganz Europa wegen der Coronavirus-Pandemie am Boden liegt, ist der Platz vor dem Museum leer.
Dass die Zahl der Besucher aus dem Ausland massiv gesunken ist, nutzen viele Amsterdamer, um endlich einmal einen Blick in das Haus zu werfen. Dies berichtet die Jewish Telegraphic Agency (JTA). So begrüßen die Museumsmitarbeiter neuerdings jede Woche Tausende Einheimische, die von den langen Wartezeiten abgeschreckt waren und sich jetzt die historische Stätte, von der sie schon so viel gehört haben, von innen anzuschauen.
Für viele sei es tatsächlich das erste Mal, berichtet JTA. »Ich habe mein ganzes Leben in Amsterdam verbracht und bin unzählige Male am Anne-Frank-Haus vorbeigegangen, aber ich wurde immer von dieser langen Reihe von Touristen abgeschreckt«, erzählte die 62-jährige Stella Ruisch, nachdem sie und ihre Tochter kürzlich das Museum besucht hatten.
CORONA Vor der Pandemie war das Anne-Frank-Haus mit täglich rund 3500 Besuchern das am dritthäufigsten besuchte Museum in den Niederlanden. Laut lokalen Medienberichten kamen vor Corona rund zehn Prozent der Besucher aus dem Inland – jetzt sind es etwa 1000 pro Tag. Wie Museumsmitarbeiter Robin Finch dem Fernsehsender AT5 sagte, wohnen die meisten in der näheren Umgebung.
Von Anfang März bis Ende Mai war das Museum wegen der Corona-Pandemie geschlossen. Seit fünf Wochen ist es wieder offen, doch dürfen sich in dem kleinen Gebäude wegen der Abstandsregeln nur 35 statt sonst 80 Personen gleichzeitig aufhalten. Das hat den Vorteil, dass man länger in den Räumen verweilen kann.
DIELEN Wie JTA berichtet, könnten Korridore, durch die man normalerweise schnell geht, um anderen Besuchern Platz zu machen, nun in aller Ruhe passiert werden. Und die Geräusche des Hauses, wie knarrende Dielen und das Rascheln von Blättern auf einem nahe gelegenen Baum, seien »ohne ständiges Schlurfen der Füße und Geschwätz« zu hören.
»Die steile Treppe ist menschenleer, ihre abgenutzten Stufen erinnern an Horden von Menschen«, schrieb die Journalistin Anouk Boone im NRC Handelsblad in einer Kolumne über ihren ersten Museumsbesuch vor einigen Tagen. Sie erinnerte sich daran, die Bleistiftmarkierungen studiert zu haben, die Annes Eltern gemacht hatten, um ihr Wachstum zu messen. Sie zeigen, wie Anne während der 25 Monate, in denen sie sich dort versteckte, 13 Zentimeter wuchs.
Boone schrieb, die »relative Leere im Museum« habe ihr geholfen, sich »auf die Erfahrung zu konzentrieren«.
Dass ausländische Touristen ausbleiben, ist jedoch ein schwerer Schlag für den Museumshaushalt. Die unabhängige Einrichtung erhält keine staatlichen Subventionen und ist für ihre Betriebskosten- und die Bildungsaktivitäten in mehr als 40 Ländern auf Eintrittsgelder und Spenden angewiesen. ja