Würde die Spruchweisheit »Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte« zur Wirklichkeit, wäre das in ihrem Sinne. Während sich Demokraten und Republikaner in diesen Wochen und Monaten vor den US-Präsidentschaftswahlen im November lautstark in hitzigen Reden und Debatten gegenseitig für die Misere des Landes verantwortlich machen, rüstet sich Jill Stein fast unbemerkt für ihren eigenen Wahlkampf.
Für sie sind die beiden großen Parteien Schiffe, die unaufhaltsam dem Meeresboden entgegensinken, und »die sich nur in der Geschwindigkeit unterscheiden, mit der sie untergehen«. Die 62-jährige Grünen-Politikerin ist fest entschlossen, das Ruder selbst in die Hand zu nehmen. Kämpferisch, nicht aggressiv, will sie Amerika aus der Krise führen.
Ihren Weg in die Politik fand die Medizinerin und Mutter von zwei Söhnen vor etwa 20 Jahren. Die Zunahme chronischer Krankheiten wie Asthma, Fettleibigkeit, Autismus und Krebs, besonders bei jungen Menschen, beunruhigte Stein. Es reichte ihr nicht mehr aus, ihren Patienten lediglich Medikamente zu verschreiben, um sie dann wieder in eine Umwelt zu entlassen, die ihrer Meinung nach Ursache für ihre Leiden war: Luftverschmutzung, industriell gefertigte Lebensmittel, giftige Chemikalien.
Kandidatin Stein wurde erst Aktivistin und dann Politikerin. 2002 ließ sie sich für die Gouverneurswahl in Massachusetts und 2004 für die Wahl zum Repräsentantenhaus in diesem Bundesstaat aufstellen, verfehlte jedoch das angestrebte Ziel. Auch im erneuten Rennen um den Gouverneursposten 2010 blieb sie ohne Erfolg. Die Medizinerin ließ sich davon jedoch nicht beirren. Bei einer Probewahl an der Western Illinois University 2011 lag sie mit 27 Prozent der Stimmen nur knapp hinter Mitt Romney (33 Prozent) und Barack Obama (39 Prozent). Das bestärkte sie in ihrer Entscheidung, auf nationaler Ebene zu kandidieren.
Stein, das »menschliche Gesicht der Partei«, wie ihr Wahlkampfmanager Ben Manski es formuliert, setzt sich für einen »Green New Deal« ein, der zu neuen Jobs und zu nachhaltiger wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Stabilität führen soll. Sie plädiert gegen den Krieg und für gravierende Veränderungen im amerikanischen Gesundheitswesen, für dessen Scheitern sie Obama verantwortlich macht. »Dies ist ein ökonomischer und ökologischer Notfall«, sagt die Harvard-Absolventin.
Stein wuchs in der Tradition des Reformjudentums auf und entwickelte, wie sie sagt, »eine starke jüdische Identität«. Die jüdischen Werte wie Verantwortung und Gerechtigkeit haben ihre Erziehung geprägt und »schlängeln sich wie ein roter Faden« durch ihre politische Karriere. Als Enkelin von Holocaust-Flüchtlingen kam sie zu der Überzeugung, dass es wichtig ist, am staatsbürgerlichen Leben teilzunehmen, »weil dies das Gegenmittel zu politischem Extremismus und der Weg zu Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit ist«.
Politik Worte wie diese fallen auch, wenn Stein zur Politik im Nahen Osten Stellung bezieht. »Menschenrechte und das internationale Recht müssen absoluten Vorrang haben, aber sie werden auf allen Seiten missachtet«, sagt Stein. Sie verurteilt die »diskriminierende Apartheid-Politik in Israel« mit den Worten: »Israel sollte seine Macht nicht dazu missbrauchen, die Menschenrechte der Palästinenser durch illegale Siedlungen und anderes zu verletzen.«
Solche Äußerungen mögen den einen oder anderen unter den jüdischen Wählern verschrecken, auf deren Unterstützung Stein hofft. Wie viele Juden tatsächlich die Grünen wählen, kann niemand so genau sagen. Manski berichtet allerdings von Wahlerfolgen in Bezirken mit großer jüdischer Bevölkerung.
Dass sie, realistisch gesehen, kaum Chancen auf einen Wahlsieg hat, scheint Stein nicht im Geringsten zu stören. Ganz im Gegenteil. »Unsere Aufgabe ist es, einer wachsenden gesellschaftlichen Bewegung eine Stimme zu geben«, betont sie. »Solange wir im Rennen sind und unsere Lösungen präsentieren können, gibt es eine Debatte und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Und eines Tages werden wir ins Weiße Haus einziehen und es in das Grüne Haus verwandeln.«