»Es sind Kriegsverbrechen, die die russische Armee dort begangen hat«, sagt Moshe Reuven Azman am Telefon. Der Oberabbiner der Ukraine ist wieder zurück in Kiew, am Sonntag war er aber noch im etwa eine halbe Autostunde entfernten Butscha, um sich selbst ein Bild von dem zu machen, was an diesem Ort geschehen ist. Die ukrainische Stadt ist am Wochenende zum Menetekel der grausamen russischen Kriegsführung geworden.
Nachdem die ukrainische Armee Butscha am Samstag zurückerobern konnte, gingen Aufnahmen von an den Händen gefesselten Leichen um die Welt, die in den Straßen der Stadt liegen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warf daraufhin der russischen Regierung vor, in Butscha gezielt Zivilisten getötet zu haben. »Sie haben Frauen, Erwachsene, ältere Menschen und Kinder getötet«, sagte er in einer Video-Schalte im UN-Sicherheitsrat. Ukrainische Behörden geben an, insgesamt etwa 300 Tote seien zu beklagen.
KONTAKT Rabbiner Azman, der seit 2005 als einer der ukrainischen Oberrabbiner fungiert, sagt, er habe schon seit Wochen geahnt, dass in Butscha furchtbare Dinge geschehen. Mit einigen Juden, die in der Stadt leben, sei er in den vergangenen Wochen in Kontakt geblieben, erklärt er im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. »Während der russischen Besetzung haben sie sich in ihren Kellern versteckt.«
Als sich die russische Armee Ende Februar dem Vorort von Kiew näherte, habe er noch einen Vertrauten mit einem Transporter losgeschickt, um möglichst viele Angehörige der jüdischen Gemeinde herauszuholen. Doch es war zu spät. Russische Truppen schossen auf das Fahrzeug und zwangen den Fahrer, unverrichteter Dinge wieder umzukehren. »Es ist ein Wunder, dass er überlebt hat«, sagt Azman.
Als ukrainische Kräfte Butscha nach der etwa einen Monat andauernden russischen Besetzung zurückeroberten, machte sich der Rabbiner zusammen mit einem Assistenten auf den Weg dorthin. Was er in Butscha und in der benachbarten Ortschaft Irpin sah, nahm er mit einer Kamera auf, »um der Welt zu zeigen, was dort geschehen ist.«
VIDEO In dem Video, das auf Facebook gepostet wurde, sieht man Rabbiner Azman durch völlig verwaiste Straßenzüge gehen, überall abgebrannte Autos und zerstörte Gebäude. Er weist auf eine Schule mit zerborstenen Scheiben und sagt erschüttert: »Das ist die Stadt Irpin.« Kurz darauf steht der Rabbiner vor dem jüdischen Waisenhaus im Ort, das äußerlich unversehrt geblieben ist. »Unsere Kinder wurden vor einigen Wochen an einem Samstag in einem Bus herausgebracht, unter starkem Beschuss. Gott sei Dank sind alle Kinder am Leben und wohlauf.« Der Jüdischen Allgemeinen sagt Azman, dass sich die Kinder in Israel aufhalten.
»Es ist furchtbar, was hier los ist.«
Der Rabbiner und sein Assistent fahren weiter nach Butscha, in die Stadt, »die weltweite Bekanntheit erlangt hat«, wie er in dem Video sagt. »Viele Autos wurden zerschossen, viele Menschen erschossen – es ist furchtbar, was hier los ist.« Auch in Butscha sieht man kaum Menschen auf der Straße, stattdessen flächendeckende Zerstörung. An einer Wand steht in fehlerhaftem Russisch geschrieben: »Erschießung! Bei Überquerung der Sperrzone.« Daneben ein großes »V«, ein Zeichen, das das russische Militär im Ukraine-Krieg häufig als Markierung benutzt.
Rabbiner Azman kommt an einem völlig plattgedrückten Fahrzeug vorbei. »Ein von einem Panzer überrolltes Auto. Hier waren Menschen drin«, interpretiert er das Gesehene. Am schwersten zu ertragen sind die Aufnahmen von einem frisch ausgehobenen Massengrab, offenbar am Rande von Butscha gelegen. Man sieht ein halbes Dutzend schwarzer Leichensäcke. Eine Hand ragt aus dem Sand hervor.
GEMEINDE Ob unter den Getöteten auch Mitglieder seiner Gemeinde sind, weiß Rabbiner Azman nicht. »Die Leichen werden gerade erst von Spezialisten identifiziert«, sagt er im Telefongespräch. Ohnehin sei es im Moment sehr schwierig, in Erfahrung zu bringen, wie es den Juden in der Stadt geht. Viele seien gleich nach der Befreiung durch die ukrainische Armee aus der Stadt geflohen und auf den Straßen begegne man kaum jemanden.
In den kommenden Tagen will er wieder zurück nach Butscha und mit anderen Freiwilligen der jüdischen Gemeinde von Kiew den dortigen Menschen – ob Juden oder Nichtjuden – so gut es geht helfen. Die Eindrücke, die er von dort mitnehmen musste, werden Rabbiner Azman wohl nicht so schnell wieder loslassen. »Mein Herz bricht von dem, was ich dort gesehen habe«, sagt er.