»Es gibt kein Leben mehr im Faschismus.« Mit diesen Worten beginnt ein Videoclip, in dem ein Mann in gestreiftem Shirt vor einer Leuchtkette und mit glitzernder Lametta-Girlande über der Schulter innerhalb von 50 Sekunden kurz und knapp seine Verurteilung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine zum Ausdruck bringt. Er endet mit dem Aufruf: »Nieder mit dem Putinschen Regime! Freiheit für alle politischen Gefangenen! Freiheit für alle Gefangenen! Und überhaupt – Freiheit für alle!« Für den Protagonisten Pavel Kuschnir endete das Leben in Unfreiheit.
Ende Mai fand sich der 39-jährige Pianist in der Hauptstadt der jüdischen autonomen Oblast Birobidschan in Untersuchungshaft wieder. Am 28. Juli starb er dort an den Folgen eines Hungerstreiks. Sogar die Aufnahme jeglicher Flüssigkeit hatte er verweigert. Infusionen hätten nichts gebracht, so ein Ermittler des Inlandsgeheimdienstes FSB zu Kuschnirs Mutter Irina Lewina. Ihr Sohn galt den Behörden als gemeingefährlich. Was ihm konkret vorgeworfen wurde, erschließt sich ihr nicht. Öffentliche Aufrufe zum Terrorismus, heißt es in der Strafsache gegen Kuschnir. Eine über alle Maßen zugespitzte Interpretation, wies sein YouTube-Kanal mit nur vier Videobeiträgen, der als Anlass für die Strafverfolgung diente, zum Zeitpunkt von Kuschnirs Festnahme doch weniger als ein halbes Dutzend Follower auf.
»Ohne couragiertes Handeln keine persönliche Entwicklung«
Erst sein Tod im Gefängnis brachte ihm Berühmtheit – worauf er zu Lebzeiten keineswegs abzielte. Wenn er jedoch zu Interviews ins Radio und Fernsehen eingeladen wurde, sagte er nicht Nein. Aufrichtig und glaubhaft, bescheiden, hochsensibel, belesen und mit Tiefgang legte er dabei seine Auffassung von Kunst dar: ohne couragiertes Handeln keine persönliche Entwicklung – nur daraus entstehe wahre Kunst.
Geboren und aufgewachsen ist Pavel Kuschnir in Tambow, einer Stadt zwischen Moskau und Wolgograd. Dort kam er bereits in frühester Kindheit mit dem Klavierspiel in Berührung. Er besuchte die Musikschule, studierte später am Moskauer Konservatorium und nahm nach seinem Abschluss Engagements als Solopianist in Jekaterinburg, Kursk, Kurgan und Birobidschan an. Musikkenner bescheinigen ihm eigenwillige Interpretationskunst klassischer Kompositionen auf allerhöchstem Niveau. Hervorgehoben wurde Kuschnirs außergewöhnliches Vermögen, den gesamten Zyklus aus 24 Präludien und Fugen des russischen Komponisten Dmitrij Schostakowitsch in einem Zug zu spielen.
Idealer Künstler Kurt Cobain
Auch wenn Kuschnir die klassische Musik zum Beruf gemacht hat, fand er inspirierende Vorbilder jenseits davon. Nirvana-Sänger und Gitarrist Kurt Cobain verkörperte für ihn das Ideal des Künstlers. Gleiches galt für die Hippie-Ikone Janis Joplin oder für Janka Djagilewa, Sängerin und Underground-Idol der späten Sowjetzeit. Die klassische Musik teste ihre Grenzen nicht in einer Weise aus, wie es die Rockmusik vermag, konstatierte Kuschnir einmal.
Serienheld Mulder, fiktionaler FBI-Agent, der sich in X-Files mit außerirdischen Phänomenen befasst, war Namensgeber für Kuschnirs YouTube-Kanal »Inoagent Mulder« (ausländischer Agent). Utopisches Denken jenseits gängiger Konventionen faszinierte den Pianisten, dabei hielt ihn die harte Realität gefangen. Jugendfreundin Olga Shkrygunowa berichtete, nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine sei er mehrmals aus Protest in den Hungerstreik getreten. Bei aller Kritik an Putin legte er Mulder die Worte »Aber schuld sind wir« in den Mund. Er wollte zwölf Jahre in Birobidschan bleiben, bis zu seinem 50. Geburtstag – vorausgesetzt »ich bin dann noch am Leben, gesund und werde nicht zur Armee eingezogen oder ins Gefängnis gesteckt«.