USA

Nichts wie weg!

Ein Mitglied der rechtsextremen »Proud Boys« bei einer Kundgebung im Norden von Portland Foto: Corbis via Getty Images

»Als Jude kannst du nie genügend Pässe haben« – das ist sozusagen die internationale Variante des deutschen »gepackten Koffers«. Für viele amerikanische Juden, die sich bisher im sichersten jüdischen Hafen jenseits Israels wähnten, stehen die Zeichen unmittelbar vor der Präsidentschaftswahl auf Segel setzen.

Mehr und mehr jüdische Amerikaner möchten auf den 3. November vorbereitet sein, an dem US-Präsident Donald Trump, entgegen aller Umfragen, womöglich erneut die Wahlen gewinnen könnte.

RASSISTEN Diese Entwicklung hat kurz vor den Wahlen ordentlich Fahrt aufgenommen, wie die Jewish Telegraphic Agency (JTA) berichtet. Am Morgen des 30. September, direkt nach dem chaotischen Rededuell zwischen Trump und Joe Biden, in dem der US-Präsident es abgelehnt hatte, sich von rechtsradikalen weißen Rassisten zu distanzieren – ihnen im Gegenteil anscheinend chiffrierte Botschaften hatte zukommen lassen (»Stand back and stand by«) –, klingelte das Telefon bei Heather Segal deutlich häufiger als gewöhnlich.

Segal, Anwältin in Toronto, deren Kanzlei auf Einwanderung spezialisiert ist, hatte am Vormittag bereits vier Anrufe von US-Bürgern erhalten, die nach Kanada auswandern wollten. Zwei von ihnen waren jüdisch. Das klingt zunächst nach einer geringen Zahl, da in amerikanischen Wahljahren die Zahlen stets nach oben gehen – doch in 25 Jahren Berufserfahrung sei der Andrang noch nie so groß gewesen wie in diesem Jahr, sagte Segal der JTA.

Die Zahl derer, die nach Kanada gehen wollen, steigt stark.

2016 habe sie, über das ganze Jahr verteilt, ein paar Dutzend Anfragen erhalten. Doch jetzt seien es sechs oder sieben pro Tag – und die meisten kämen von Juden, so Segal.

ängste »Ich habe das so bisher noch nicht erlebt«, sagt die Juristin, die selbst Jüdin ist. Jüdische US-Bürger würden ihr gegenüber stets dieselben Ängste artikulieren. »Sie sagen mir immer wieder: ›Das hat es schon mal gegeben. Ich werde hier nicht hängen bleiben, ich werde mich nicht schnappen lassen. Wir wissen, wohin das führt. Es wird zu einem Bürgerkrieg kommen. Das wird das Ende der Demokratie hierzulande sein. Ich mache mir große Sorgen um unsere Zukunft. Ich möchte nicht abwarten, was passiert. Meine Großeltern sind während des Zweiten Weltkriegs noch aus Polen rausgekommen.‹«

Segal ergänzt: »Was immer auch der Grund für diese Äußerungen sein mag, sie geben mir zu denken.«

Dass enttäuschte Wähler die USA in Richtung Kanada verlassen wollen, weil das Land ihrer Ansicht nach »falsch« gewählt hat, ist eine übliche Randerscheinung amerikanischer Urnengänge, zumindest auf linksliberaler Seite – gilt Kanada doch vielen liberalen US-Bürgern mit seinen europäischen Sozialstandards als »besseres Amerika«. Und dass sich strenggläubige Juden vor – aus ihrem Blickwinkel – zu viel Häresie gern in Richtung Israel abwenden, wenn zu »progressive« Präsidenten gewählt wurden, ist auch bekannt, doch statistisch genauso wenig relevant wie die Migration nach Kanada.

Übergriffe Aber 2020 ist alles anders. Vergangenes Jahr wurden nach Angaben der Anti-Defamation League die meisten antisemitischen Vorfälle in den Vereinigten Staaten seit 1979 gezählt, darunter sieben blutige Attacken mit tödlichem Ausgang und brutale Übergriffe auf orthodoxe Juden in Brooklyn. Diese Zahlen und Trumps mögliche Wiederwahl respektive das mögliche Chaos nach der Wahl lassen bei immer mehr Menschen den Entschluss reifen, das Land verlassen zu wollen. Sie werfen Trump vor, das Feuer des Antisemitismus, das durchs Land lodert, zumindest geschürt, wenn nicht sogar entflammt zu haben.

Da ist zum Beispiel die Presidential Debate. Durch seine Zurückhaltung beim Verurteilen rechter Gewalt sorgte Trump bei rechtsradikalen Banden wie den Proud Boys für Jubel in den sozialen Netzwerken. Doch dies ist nur der letzte Fall in einer fatalen Reihe von Negationen rechter Bedrohung oder Gewalt durch den Präsidenten. Erinnert sei auch an Trumps Bemerkungen nach dem Mord an einer Gegendemonstrantin bei einem Neonazi-Aufmarsch in Charlottesville, »auf beiden Seiten« gebe es »großartige Leute«.

Diese Empfindungen werden durch die Anfang der Woche veröffentlichten Ergebnisse der Umfrage des American Jewish Committee (AJC), »The State Of Antisemitism In America«, untermauert.

antisemitismus Das AJC fragte unter anderem US-Juden, ob sie in den vergangenen fünf Jahren das Ziel physischer antisemitischer Attacken oder Bemerkungen per E-Mail, Telefon, online oder in sozialen Medien gewesen seien. 37 Prozent antworteten mit »Ja«. 43 Prozent fanden, die Sicherheit amerikanischer Juden habe sich im Vergleich zum Vorjahr verschlechtert.

Viele jüdische Repräsentanten wie etwa der langjährige Direktor der Anti-Defamation League, Abraham Foxman, selbst Schoa-Überlebender, oder die Holocaust-Expertin Deborah Lipstadt zogen Parallelen zwischen dem Aufkommen des Nazismus in Deutschland und Trumps Präsidentschaft.

Viele Juden glauben, Trump höhle die Demokratie aus wie einst die Nazis.

Vergleiche zwischen der Nazi-Herrschaft und der trotz allem äußerst stabilen Demokratie in den USA waren bisher ein absolutes Tabu. Doch mittlerweile schleichen sie sich auch in Mainstream-Zirkel ein. Inzwischen sind viele Juden davon überzeugt, dass Trump und seine Regierung mit ihrer Rhetorik demokratische Normen auf ähnliche Weise unterhöhlen, wie es die Nazis in Weimar und nach der Machtübernahme taten.

»Mir geht momentan dauernd durch den Kopf, was meine Familie wohl dachte, nachdem Hitler die Macht übernommen hatte«, sagt Sarah Morris, Anwältin aus dem US-Bundesstaat Colorado, im Gespräch mit JTA. Ihr Großvater, der aus der damaligen Tschechoslowakei kam, war der Einzige seiner Familie, der die Schoa überlebte.

BEDROHUNG Morris gehört zu jener wachsenden Gruppe amerikanischer Juden, die sich bemüht, ein neues Zuhause außerhalb der USA zu finden – ob in Kanada, Israel oder der EU. Sie hat Anspruch auf die kanadische Staatsbürgerschaft und hat ihren Antrag bereits im August gestellt.

Natürlich ist es keineswegs ausgemacht, dass nach den Wahlen eine jüdische Auswanderungswelle beginnt. Aber die Angst, die sich in Morris’ und anderen Geschichten spiegelt, reflektiert eine Bedrohungslage, die es zuvor in den USA nicht gab.

Für Heather Segal, die kanadische Immigrations-Anwältin, ist das, wie sie sagt, »verheerend« – obwohl es ihrem Geschäft guttue. »Es macht mich traurig, denn ich liebe Amerika, seine Ideale und seine Errungenschaften. Aber ich frage mich: Was ist los in den USA? Ich sehe so viel Angst.«

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