Ein paar Schritte braucht Leo Pavlat zu dem Schrank in seinem Büro. Pavlat ist Direktor des Jüdischen Museums in Prag, und mit einem Griff holt er zwei Kopfsteinpflastersteine hervor – quadratische Steine aus schwarzem Granit. »Schauen Sie, so sehen sie aus wie Pflastersteine«, sagt er und hält sie nebeneinander, dann dreht er sie um, bis eine glänzend geschliffene Seite nach oben zeigt.
»Und so sieht man, was sie früher einmal waren.« Ein paar hebräische Buchstaben sind dort eingraviert, auf einem ist die Jahreszahl 1895 zu lesen: Überbleibsel von früheren Grabsteinen.
DEBATTE Es ist eine alte Geschichte, die Pavlat mit diesen Grabsteinen verbindet und die jetzt in der aktuellen tschechischen Debatte wieder auftaucht: »Ich habe Ende der 80er-Jahre in einem Verlag mitten in Prag gearbeitet, und auf dem Weg zur Arbeit sah ich eine Straßenbaustelle, wo Pflastersteine aufgetürmt lagen. Im Vorbeigehen habe ich darauf hebräische Inschriften gesehen. Da war mir klar: Das müssen alte Grabsteine sein.«
Zwei der Pflastersteine steckte er ein; es sind diejenigen, die jetzt in seinem Büro auf dem Tisch liegen. Seit jenem Tag ahnte Leo Pavlat, dass in Prag systematisch die Überbleibsel jüdischer Friedhöfe zu Straßenbelag verarbeitet werden.
Damals sprach niemand darüber – »aber in den 90er-Jahren fing man an, davon zu sprechen und darüber zu schreiben«. Nur: Weil die Steine fest verbaut waren, konnte niemand der Sache auf den Grund gehen.
Bis Ende der 80er-Jahre missbrauchte man überall im Land
jüdische Grabsteine.
Bei den jüdischen Gemeinden in Prag ahnte man deshalb schon, was geschehen würde, wenn der berühmte Prager Wenzelsplatz umgebaut wird. Seit mehr als einem Jahrzehnt schon gibt es die Pläne, aus dem lang gestreckten Boulevard eine Fußgängerzone zu machen, über die in der Mitte die Straßenbahn fahren soll – noch ist der Wenzelsplatz mit Fahrbahnen und Parkplätzen belegt.
umbauarbeiten Jetzt endlich beginnen die Umbauarbeiten, und rechtzeitig vorher unterzeichnete die Prager Gemeinde mit dem Stadtrat ein Memorandum. Wenn Reste jüdischer Grabsteine gefunden werden, heißt es darin, können sie von Experten der Gemeinde begutachtet und anschließend in Verwahrung genommen werden.
Jetzt, wo die Arbeiten am unteren Ende des Platzes begonnen haben, sind bereits 100 Pflastersteine aufgetaucht – das ist wohl nur die Spitze des Eisbergs, urteilt Leo Pavlat: »Der Boden ist nicht einheitlich gepflastert, sondern mit Mustern im Bodenbelag. Und einer der Streifen ist ganz in der Farbe jener Pflastersteine gehalten, die schon aufgetaucht sind.«
Auch die übrigen Pflastersteine, so ist seine Vermutung, dürften deshalb von jüdischen Friedhöfen stammen.
ANGEHÖRIGE Nicht nur in Prag wurden die jüdischen Grabsteine zu kommunistischer Zeit für andere Zwecke missbraucht, sondern überall in Mähren und Böhmen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es Hunderte jüdischer Friedhöfe im ganzen Land, die verlassen waren.
Diejenigen, die sich um die Gräber ihrer Angehörigen kümmerten, waren ermordet worden. Und so gab es niemanden, der sich für die Gräber zuständig fühlte – wohl aber wertvolle Grabsteine, oft aus Marmor oder Granit. »Sie wurden zum Gegenstand von Geschäftemachereien«, sagt Leo Pavlat und schüttelt den Kopf darüber.
Dass Behörden Pflastersteine daraus schneiden ließen, war eine der häufigsten Verwendungen. Es gab aber auch andere Formen der Plünderung. »Die Steine wurden oft in Absprache mit den örtlichen Behörden an Steinmetze verteilt«, sagt Pavlat.
inschriften Die schlugen oft die alten Inschriften heraus und verwendeten die kostbaren Steine kurzerhand für andere Gräber, versehen mit neuen Namen und neuen Geburts- und Sterbedaten.
Und häufig wurden die verlassenen jüdischen Friedhöfe schlicht von den Anwohnern missbraucht. »Wenn jemand im Garten zum Beispiel einen Weg anlegen wollte, ging er also auf den Friedhof und holte sich dort die Steine, die er brauchen konnte«, sagt Leo Pavlat.
Bei den jüdischen Gemeinden selbst herrscht oft Uneinigkeit über den Umgang mit den Relikten, die allenthalben auftauchen.
An ein denkwürdiges Beispiel erinnert er sich aus eigener Anschauung: »Einmal stand ich in Südböhmen in einem Garten, wo eine Tischplatte aus einem alten Grabstein gefertigt war.« Die neuen Besitzer drehten ihn kurzerhand um, sodass die Inschrift nach unten zeigte, und stellten dann ihr Essgeschirr darauf. Die Friedhöfe selbst, auf denen dann keine Steine mehr standen, wurden eingeebnet und als Baugrundstücke oder Stadtpark genutzt.
INITIATIVEN Inzwischen gibt es überall im Land Initiativen, die die Grabsteine zurückholen – oder das, was von ihnen übrig geblieben ist. Für Aufsehen gesorgt hat beispielsweise eine Initiative im mährischen Prostejov: Dort geben viele Einheimische alte Grabsteine zurück, die sie auf ihren Grundstücken haben; sogar für einen Hühnerstall wurden sie in einem Fall genutzt.
Bei den jüdischen Gemeinden selbst herrscht oft Uneinigkeit über den Umgang mit den Relikten, die allenthalben auftauchen. Es gebe so viele Synagogen und Friedhöfe, die sich noch erhalten ließen, seufzt etwa Frantisek Banyai, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Prag, und beschreibt das Dilemma: Sollte man seine finanziellen und personellen Kapazitäten nicht lieber darauf richten, das zu retten, was noch zu retten ist?
Im Falle der zersägten Steine, die auf dem Wenzelsplatz auftauchen, engagiert sich die jüdische Gemeinde stark. Sie nimmt die Grabsteine in Verwahrung. Eine Ausstellung soll aus ihnen entstehen, die bald in der Prager Jerusalems-Synagoge gezeigt wird, um auf den schändlichen Umgang mit dem Kulturerbe hinzuweisen.
Und danach? Da sollen die Überbleibsel auf einen intakten jüdischen Friedhof gebracht und dort aufbewahrt werden – ein würdevoller Schlussstrich unter ein unwürdiges Kapitel, so hofft man bei den jüdischen Gemeinden in Tschechien.