Zur Zeit meiner Barmizwa, im Jahr 1957, war Jerusalem noch eine geteilte Stadt, und die Kotel, die Westmauer des Tempels, konnte von Ausländern nur über Jordanien besucht werden. Israelische Staatsangehörige konnten von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch machen. Überhaupt war das ganze Gebiet um die Klagemauer in sehr schlechtem Zustand. Nicht nur war der Ort schwer zugänglich, sondern von den damaligen jordanischen Behörden komplett vernachlässigt.
Zur damaligen Zeit getraute sich keiner, Chanukka an diesem prominenten Ort zu feiern. Zu tief waren die Animositäten zwischen den »Arabern« und dem jungen Staat Israel, der täglich ums Überleben kämpfte. Selbst die sonst unerschrockene Chabad-Lubawitsch-Bewegung wartete bis zum Sechstagekrieg ab, um Monate später, am Vorabend des 25. Kislew, einen riesigen Chanukkaleuchter an der Kotel aufzustellen.
In Zürich, dem Wohnort meiner Eltern Leon und Lucie, brauchte es lange Zeit, bis die jüdische Bevölkerung zum Lichterfest auf die Straßen ging, um ihre Freude zu bekunden. Als wäre im fernen Israel nichts geschehen, feierten wir wie zuvor das achttägige Lichterzünden im Schatten des Almemors der Synagoge oder zu Hause mit größter Diskretion.
Bedrohung Meine Mutter Lucie, die im Jahr 1933 noch in Wien wohnte, wusste, was es hieß, im familieneigenen Tuchgeschäft von österreichischen Faschisten bedroht zu werden, die für ein ganzes Heer braune Stoffballen zur Fabrikation von Uniformen bestellten. Kaum hatte die Familie den ominösen Auftrag registriert, löste sie eiligst das Geschäft auf und flüchtete nach Zürich.
Lucies Eltern und ihre beiden Schwestern wanderten über Kuba nach New York aus. Am liebsten wäre Lucie mit nach Amerika gegangen, aber die Liebe entschied anders. Doch nach der Flucht aus Wien blieb sie auch den Schweizern gegenüber eher misstrauisch, eine Höllenangst saß ihr im Nacken und bestimmte für lange Zeit ihr vorsichtiges Auftreten.
In dieser eher düsteren Situation feierten die Zürcher Gemeinden Chanukka ohne Überschwänglichkeit. Das göttliche Tempelwunder stand im Vordergrund. Die Stimmung war gedrückt: Man dachte an das Überleben. Leon und Lucie zogen mit ihren drei Söhnen nach Lausanne um. Sie fürchteten, Hitler würde in einem Blitzkrieg das Schweizerische Mittelland mit seinen Waffenfabriken und starken Finanzinstitutionen besetzen.
Leon hinterließ seine gottesfürchtigen Eltern Fischel und Chaye im Zürcher Schtetl, wo sie das Textilgeschäft hüteten. Am Schabbat wunderte sich Fischel, dass es zum Gebet praktisch keinen Minjan gab.
Mut Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs in Zürich eine neue Generation heran, die den Mut wiederfand, altbewährte rabbinische Traditionen zu pflegen, so auch in der Synagoge meiner Eltern in der Freigutstraße: Zu meiner Zeit hatte Melamed Schlojme Adler das Sagen, er bereitete die Drascha meiner Barmizwa vor, die zufälligerweise mit der Chanukkafeier zusammenfiel. Jedes heilige Wort der Rede war abgewogen.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich vor Hunderten Gästen lang und breit über das Tempelwunder referierte: Im Fokus standen die Machlojkess, die Streitigkeiten zwischen den zwei Talmudakademien – Beit Hillel gegen Beit Schammai –, die sich mit aller Skepsis über die technischen Einzelheiten des Wunders stritten.
Als meine Großmutter Chaye ihrem jüngsten Enkel zuhörte, wie er sich mit der talmudischen Materie herumschlug, strahlte sie vor himmlischem Vergnügen. Jedes Mal, wenn ich eine Passage fehlerfrei zu Ende brachte, baumelten ihre Diamantohrringe hin und her und erzeugten ein Meer von kleinen Lichtpunkten, als würde mein Vortrag von Cherubinen eskortiert.
Über das gefährdete Israel wurde kein Wort vergeudet. Ein Aufruf, mit Tatkraft Jeruschalajim zu befreien, blieb aus, jeder Anflug lärmiger Militanz wurde im Keim erstickt. Man verließ sich auf den Ejberschten, den Allmächtigen.
horizont Erst nach dem Krieg 1967 wurde die Geschichte des Tempelvolkes neu geschrieben. Mit den ersten Fotos, die General Mosche Dayan mit seinen Soldaten in Siegerpose an der Kotel zeigten, änderte sich schlagartig alles – nicht nur für die Israelis. Das Rückgrat der Diasporajuden wurde gestärkt, unser Horizont erweitert.
Das Gelände vor der Westmauer mit seinen großen Steinquadern wurde mit Bulldozern stark erweitert, sodass Tausende von Juden die Klagemauer Tag und Nacht in Würde, und vor allem in Sicherheit, besuchen können.
Seitdem hat sich in Israel Chanukka zu einem gigantischen Volksfest entwickelt. Gefördert von den Medien hat man dem Fest ein neues Gepräge aufgestempelt. Unter der Teilnahme des Volkes werden auf öffentlichen Plätzen riesige Chanukkaleuchter angezündet. Ein von der Stadtbehörde bestelltes Orchester stimmt selbstbewusste Chanukkalieder an, Sufganiot und Latkes werden gratis verteilt, Freunde und Bekannte treffen sich, tauschen Geschenke aus.
Keiner aus meiner Familie wohnt mehr im Zürcher Schtetl. Ein Teil ist nach Israel ausgewandert. Wann immer wir können, verbringen wir unsere Winterferien in Eilat, wo es um Chanukka von Touristen nur so wimmelt. Für unsere Kinder ist diese Zeit der überreizten Stimmung, die dann in ganz Israel herrscht, ein wohltuendes Geschenk für das Leben.