Antisemitismus-Forschung

Wie Europa im Mittelalter antisemitisch wurde

Die Vertreibung von Juden wie - hier in Kastilien - war im europäischen Mittelalter gängige Praxis Foto: ullstein

Kann man bereits von Antisemitismus sprechen, wenn es um das Verhältnis zwischen Christen und Juden im Mittelalter geht? Das ist normalerweise verpönt, da der Begriff Antisemitismus erst in den 1870er Jahren entstand und eine rassische Bedeutung trägt. Für das Mittelalter sei der Begriff Anti-Judaismus besser, weil die Feindschaft von Christen gegenüber Juden religiös konnotiert gewesen sei, so die gängige Meinung in der Wissenschaft. Da ist allerdings einiges in den vergangenen Jahren in Bewegung geraten.

Ivan G. Marcus ist Professor für Jüdische Geschichte an der renommierten amerikanischen Yale University. Er hat das Zusammenleben von Christen und Juden in seinem jüngst erschienen, bislang nur auf Englisch erhältlichen Buch How the West became antisemitic. Jews and the formation of Europe, 800-1500 (Wie der Westen antisemitisch wurde. Juden und die Entstehung Europas, 800-1500) grundsätzlich neu interpretiert.

Zusammengefasst versteht der Autor sein Werk als Untersuchung, »wie die Juden, real und imaginiert, die christliche Mehrheitsgesellschaft im mittelalterlichen Europa so herausforderten, dass Europa zu einer Gesellschaft wurde, die religiös und kulturell auf eine neue Weise antisemitisch war.« Dieses neue europäische Selbstverständnis sei dann Teil der kulturellen Identität bis zur Zeit des Holocaust und noch danach geblieben, so der Wissenschaftler.

Europas Geschichte wurde geschrieben, als hätten Juden auf dem Mond gelebt

Prinzipiell stellt der Mittelalterhistoriker fest, die Geschichte Europas zu dieser Zeit sei bislang so geschrieben worden, als ob Juden eher auf dem Mond statt in den kleinen Städten Nordfrankreichs, Englands oder Deutschlands gelebt hätten. Seiner Meinung nach neigen Historiker, die sich nicht intensiv mit jüdischer Geschichte beschäftigen, dazu, Juden als in Ghettos isolierte, passive Opfer von Verfolgung zu sehen, falls sie diese überhaupt zur Kenntnis nähmen. Das Gegenteil sei der Fall gewesen: Juden seien im Mittelalter durchsetzungsfähige Handelnde gewesen.

Wie stellte sich das Verhältnis zwischen den beiden Religionen nach Ansicht des Historikers Marcus dar? So hätten Juden die Christen als fehlgeleitete Anhänger ihrer überlieferten Bräuche akzeptiert, das Christentum aber als Götzendienst betrachtet. Christen hingegen betrachteten die Juden selbst, nicht aber das Judentum, als verachtenswert. »Sie richteten ihren Hass auf einen realen oder imaginären Juden: theoretisch untergeordnet, aber manchmal durchsetzungsfähig, ein unerbittlicher ›innerer Feind‹ «, erklärt der Historiker.

Was folgte daraus? Christen waren fest davon überzeugt, dass Juden dauerhaft und physisch jüdisch blieben. Daher hätten sie gar nicht zum Christentum bekehrt werden können. Das habe dazu geführt, dass Christen die Juden zunächst aus religiösen Gründen und schließlich aus rassischen Gründen hassten, so Marcus‹ Schlussfolgerung.

Shakespeare prägte Figur des jüdischen Geldverleihers, ohne welche zu kennen

Eine wichtige Erkenntnis des Historikers ist, dass selbst als die Juden nicht mehr unter den Christen lebten, eben weil sie vertrieben oder ausgewiesen worden waren, sie dennoch bei ihren ehemaligen christlichen Nachbarn präsent blieben. Marcus spricht hier von »imaginären Juden« und verweist auf mehrere englische Dramen, die bis heute als Klassiker auf den Bühnen präsent sind.  

William Shakespeare (1564-1616) etwa hat mit Shylock in Der Kaufmann von Venedig die Figur des unbarmherzigen jüdischen Geldverleihers über Jahrhunderte geprägt. Aber Shakespeare konnte keine Juden kennen, weil diese bereits 1290 aus England vertrieben worden waren.

Marcus‹ Fazit: Der moderne Antisemitismus, der sich auf die Vorstellung vom mächtigen und die Welt beherrschenden Juden stützt, ist eine Weiterentwicklung dieses mittelalterlichen Hasses. Zum Schluss seiner Abhandlung äußert Marcus seine Sorge über den gegenwärtigen Antisemitismus in den USA.

Der Wissenschaftler sieht Muster gegeben, wie sie bereits im Mittelalter vorhanden waren: Juden als der innere Feind, als nicht ausreichend unterwürfig gegenüber der weißen, christlichen Mehrheitsgesellschaft und als Rasse, da ein Jude immer ein Jude bleibe. Es gebe jeden Grund, besorgt zu sein, dass postmoderne Formen des Nationalismus und ähnlicher Theorien, die auf der Überlegenheit einer weißen christlichen Gemeinschaft bestehen, die mittelalterlichen Strukturen des Antisemitismus recyclen würden.

Weltall

Der Rocket Man ist zurück auf der Erde

US-Milliardär Jared Isaacman schreibt mit der kommerziellen Mission »Polaris Dawn« Raumfahrtgeschichte

von Detlef David Kauschke  24.09.2024

USA

100 Jahre jüdische Coolness

Vor einem Jahrhundert wurde Betty Perske in der Bronx geboren. Mit 19 stieg sie als Lauren Bacall zur Leinwandgöttin auf

von Sophie Albers Ben Chamo  22.09.2024

Schoa

Estland gedenkt der Holocaust-Opfer von Klooga vor 80 Jahren

Präsident Alar Karis: »Äußerst schmerzlicher Einschnitt in der Geschichte Estlands und des jüdischen Volkes«

 20.09.2024

Schweiz

Links ja, SP nein

Der Sozialdemokratischen Partei laufen die jüdischen Genossen weg

von Nicole Dreyfus  20.09.2024

Berlin

Noch 50 jiddische Medien weltweit

Entsprechende Radioprogramm sind »auch für deutsche Ohren verständlich«

 19.09.2024

New York

Harvey Weinstein weist neue Anklagevorwürfe zurück

Weitere sexuelle Vergehen werden dem früheren Filmmogul vorgehalten

 19.09.2024

London

Neue Buslinie verbindet jüdisch geprägte Stadtviertel

Bürgermeister Sadiq Khan will gegen Judenhass vorgehen. Ein Bus soll das Sicherheitsgefühl stärken

 18.09.2024

Polen

Türen für die Ewigkeit

Deutschland finanziert den neuen Eingang der Nozyk-Synagoge, die als einzige in Warschau den Krieg überstanden hat

von Gabriele Lesser  16.09.2024

Porträt

Eleganz und Lässigkeit

Vor 100 Jahren wurde die jüdische Hollywood-Legende Lauren Bacall geboren

von Sabine Horst  16.09.2024