Das wird wohl nur ein Traum bleiben», sagt der weißhaarige alte Herr und blickt versonnen in den Himmel, der sich über den Parc Monceau spannt. Er sitzt auf der Parkbank und wartet darauf, dass seine Schwiegertochter mit den Enkeln vorbeikommt. «Vielleicht machen die Jungen ja ihre Alija, wenn sie es sich leisten können.» Da sitzt er nun und malt sich eine Zukunft aus für Ben, Léo und Raffael. Ärzte, Anwälte, Wissenschaftler sollen sie werden, dann schaffen sie es bestimmt, ins gelobte Land aufzubrechen.
Fast 150.000 französische Juden haben Alija gemacht. Im Vergleich zum vergangenen Jahrhundert verzeichnet die Auswanderung nach Israel ein Wachstum von 71 Prozent seit der Jahrtausendwende. Grund dafür ist nicht nur die Sehnsucht, in Israel unter Gleichgesinnten und Gläubigen zu leben, das Land zu stärken und in die Zukunft zu begleiten, sondern auch die Furcht vor zunehmendem Antisemitismus.
Pöbeleien Immerhin entfällt die Hälfte aller rassistischen Vorkommnisse auf weniger als ein Prozent der Bevölkerung: die französischen Juden. Dabei geht es nicht um Pöbeleien von Trunkenbolden oder dumme Schmierereien. Es geht um Dinge wie Kalaschnikow-Kugeln, die man morgens in einem Briefumschlag mit einem Begleitschreiben «Tod den Juden» serviert bekommt.
Kein Wunder also, dass immer mehr französische Juden ihre Pavillons (Häuschen in der Vorstadt) verlassen und das Weite suchen. «Meinem Cousin», sagt der alte Herr, «haben sie neulich die Kippa vom Kopf gerissen, als er sein Haus in Sarcelles verließ. Jetzt will er verkaufen, aber da will ja keiner mehr hin, und nach Israel ... Israel ist zu teuer für uns.» Er winkt ab und blickt einem Luftballon hinterher, der einem kleinen Jungen entgleitet, als er aus dem Karussell steigt. «Pauv’ petit chou (armes Kerlchen)!», sagt er.
Wohin, wenn sich die Träume in Luft auflösen und selbst Sarcelles kein sicherer Ort mehr ist? Sarcelles liegt im Pariser Westen und wird auch «kleines Jerusalem» genannt. Der Name stammt jedoch aus einer Zeit, als sich noch weniger «Racaille», wie der alte Mann zu sagen pflegt, im Ort versammelt hatte. Racaille, das ist kein feines Wort.
Nicolas Sarkozy wäre beinahe gestürzt über diesen politisch höchst unkorrekten Ausdruck, als er ihn auf die ungebildete, aggressive Banlieue-Jugend münzte. «Wie soll man sie denn sonst nennen?», fragt Monsieur und schüttelt den Kopf. «Und wo sollen wir denn noch hinwandern? Zuerst von Ost nach West – und nun? Hier ist es ganz schön. Im 17. Arrondissement lebt man ganz gut. Die Kinder haben ein koscheres Restaurant hier. Das ist die Zukunft, sagen sie. Ah, da kommen sie ja!» Drei kleine Jungs stürmen auf ihn zu, rufen «Papy (Opa)!» und werfen sich in seine Arme. «Au revoir, Madame», sagt er und winkt mir hinterher.
Claude Monet «Au revoir, Monsieur», antworte ich und schlendere Richtung Ausgang vorbei an ägyptischen Pyramiden, holländischen Windmühlen und korinthischen Säulen. Eine malerische Gartenanlage, die bereits Claude Monet und Hector Berlioz verzauberte. Auf dem Boulevard de Courcelles muss ich mich erst einmal orientieren. Auf meiner Liste habe ich fast 30 koschere Restaurants und Geschäfte. Vor zehn Jahren gab es vielleicht eine Handvoll.
Woran liegt dieser Aufschwung des 17. Arrondissements? Warum sprechen die Franzosen sogar von einer «Alya interne», einer innerstädtischen Alija? Mehr als 20 Prozent der hier lebenden Menschen sind Juden. Vor zehn, 20 Jahren war die Bevölkerung noch vorwiegend katholisch. Ein paar einzelne Ärzte hatten ihre Praxen in den schicken Avenuen, es gab kaum «Lieux de culte» und Synagogen. Das 17. Arrondissement assoziierte man weniger mit Judentum als bestimmte Teile des 16. oder das Marais-Viertel. Was also ist passiert? Es wäre zu einfach, zu behaupten, dass das Viertel eine magnetische Wirkung hat, dass sich die Erstansiedlung einiger weniger zu einem Massenphänomen entwickelte, weil es dort schön ruhig ist und es den entzückenden kleinen Park gibt.
Nein, am Anfang aller Bewegungen steht wie so oft eine ökonomische Notwendigkeit. Die Tatsache, dass vor allem Akademiker und Freiberufler, Ärzte, Anwälte, Forscher, Hochqualifizierte, ihr Glück in Israel versuchen, gibt Anlass zu der Frage, wie sich die weniger privilegierten Bevölkerungsschichten eine Gemeinschaft Gleichgesinnter und eine Lebensgrundlage schaffen können. Paris ist wie alle Großstädte der Gentrifizierung unterworfen, hadert mit den Risiken der Globalisierung. Die Enkel der Nachkriegsgeneration kämpfen um den Erhalt ihres Lebensstandards und versuchen, sich mit neuen Geschäftsideen eine Existenz aufzubauen.
Textilviertel Der Haupterwerbszweig vieler jüdischer Business-Pioniere ist im letzten Jahrzehnt weggebrochen. Die französische Textilwirtschaft liegt brach. Kaum eine Modemarke legt noch Wert auf das Qualitätslabel «Made in France». Während in den 70er- und 80er-Jahren jüdische Textilfabrikanten die erste Garde der französischen Luxusmarken belieferte und am Aufbau vieler angesagter Labels beteiligt war, wird heute in Billiglohnländern wie China oder Bangladesch produziert. Nach einer Zeit des Dahinvegetierens gehört das traditionelle jüdische Textilviertel, der Sentier, der asiatischen Konkurrenz.
Im letzten Teil der französischen Erfolgskomödie La verite si je mens (Lügen haben kurze Röcke) von 2012 deutet sich das Ende bereits an: Nur durch einen Trick gelingt es den Händlern, die chinesische Konkurrenz auszubooten. Die Realität sieht weniger rosig aus. Kaum einer hält im Sentier mehr die Stellung, vorbei sind die Zeiten, als man den Anzug für die Barmizwa, das erste Business-Outfit eisern verhandelte.
Der Markt wandelt sich, und die jüdischen Händler sind gezwungen, nach neuen Geschäftsfeldern Ausschau zu halten. Wer klug war, investierte in Immobilien. Der Verkauf des einen oder anderen Apartments erlaubt bei den irrwitzig steigenden Immobilienpreisen einen erklecklichen Erlös, der einen Lebensabend in Cannes und ein Finanzpolster für die Nachkommenschaft ermöglicht. Wer weniger vorausschauend war, muss sich umorientieren. Was könnte der nächste Business-Hit für französische Juden mit Unternehmergeist sein. La bonne bouffe? Gutes Essen? Richtig! Die nächste Episode des französischen Blockbusters könnte vom Einstieg ins koschere Food-Business handeln.
Sushi Hippe Delis im New York Style und koschere Sushi- und Pizzaläden schießen wie Pilze aus dem Boden. Und wo lassen sich diese Projekte am besten verwirklichen? Im 17. Arrondissement. Es ist ein Viertel mit vielen Gesichtern. Die noble Avenue de Courcelles, die schicke Rue de Prony treffen auf ein populäres Viertel, das an die Place de Clichy grenzt. Für Gastronomen ein Hauptgewinn.
Die ältere Generation labt sich an Foie gras und gehackter Hühnerleber, die Jungen sprechen der World Cuisine zu. La cuisine juive erlebt einen wahren Boom. «Sie machen eine Reportage über jüdische Restaurants, wie schön!» Der Besitzer des koscheren Pizza-Ladens strahlt. Der Versuch, ein Stück Pizza auszuhandeln, wird jedoch verschmitzt abgeschmettert. «Schreiben Sie ruhig über uns, aber Werbung haben wir nicht nötig.» Ah, wie sehne ich mich nach meinen glorreichen Verhandlungsrunden im Sentier zurück.
Das Vergnügen bestand nicht nur darin, feines Tuch zum Discountpreis zu ergattern, sondern auch in der zeremoniellen Basar-Verhandlung, bei der beide Seiten auf ihre Kosten kamen. Im Food Business herrschen wohl andere Regeln.
Gänseleber Weiter geht’s zu Schwartz’s Deli. In der Avenue Niel im schicken Teil des 17. Arrondissement liegt das Restaurant, die anderen beiden Filialen im Marais und am Trocadéro, im edlen 16. Arrondissement. Hier versammelt sich die Jeunesse dorée der Gemeinde. Man frönt dem New Yorker Lifestyle und hebt sich mit Burgern und Bagels von den gediegenen, sehr französischen Essgewohnheiten der Eltern ab.
Hacksteaks statt Foie gras? Für Jerry Lévys Kunden kaum vorstellbar. Die Boucherie Lévy ist eine Institution im 17. Arrondissement, ach was, in tout Paris! Der Ruf seiner Gänseleber eilt Lévy bis nach St. Tropez und Courchevel voraus. Dort hat der Metzger Verkaufsstellen, damit sich die betuchte, vor allem sefardische Klientel auch im Urlaub nicht in Verzicht üben muss.
Mit Feigen oder Maronen serviert, können Foie gras wenige widerstehen. Es läuft einem das Wasser im Munde zusammen, wenn Lévy seine Delikatessen anpreist. Er ist ein Bonvivant, Genießer und Optimist. Kein negatives Wort kommt ihm über die Lippen.
Er begrüßt seine Kunden mit Handschlag, parliert über seinen Urlaub in Israel, erzählt von seiner Freundschaft mit dem Berliner Rabbi, drückt einer Kundin ein kleines Geschenk in die Hand. «Wie? Sie wollen das nicht? Wenn ich schon jemandem einmal ein Geschenk mache, dann will er das nicht?» Er lacht und zwinkert der Kundin zu. «Wie lebt es sich hier in Frankreich?», frage ich. «En France il fait bon vivre (in Frankreich lebt es sich gut)», sagt er.
Journalisten Weniger optimistisch geht es bei einem Händler zu, der sich auf Gebetsaccessoires spezialisiert hat. «Frankreich hat eine großartige Vergangenheit, aber keine Zukunft. Das dürfen Sie schreiben», sagt er, während seine Frau auf Zurückhaltung bedacht ist. Man will nicht auffallen, keine Ressentiments auf sich ziehen. Nach den Attentaten hatten sich Kamerateams und Unmengen an Journalisten um jüdische Geschäfte im 17. Arrondissement geschart.
«Das wollen wir nicht», sagt der Händler. «Wir möchten hier einfach nur in Frieden leben und vielleicht sogar einmal so viel Geld verdienen, dass wir auswandern können.» «Nach Israel?», hake ich nach. «Wohin denn sonst?», antwortet er. Von einer «stadtinternen Alija» ins 17. Arrondissement will er nichts wissen. «Das 17. ist nicht Israel.»