Die Adresse liest sich prominent: Die Wiener Holocaust Library liegt mitten in London, am Russell Square. Bis 2019, als sie noch Wiener Library hieß, war allenfalls Historikern bewusst, dass sich hinter dem Namen eines der bedeutendsten Archive verbirgt, das sich mit dem Schicksal deutscher Juden in den 30er-Jahren beschäftigt.
Und es gibt einen Superlativ: Die Wiener Holocaust Library ist die älteste Sammlung ihrer Art. Nun begeht sie den 90. Jahrestag ihrer Gründung mit zwei Ausstellungen. Die eine präsentiert Highlights aus ihrem Bestand, die andere zeigt die Vita ihres Gründers und Namensgebers Alfred Wiener.
eisernes kreuz Der 1885 in Potsdam geborene Wiener erhielt für seinen Einsatz im Ersten Weltkrieg das Eiserne Kreuz. Er war Mitglied im Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und beobachtete aufmerksam die politischen Entwicklungen in Deutschland. Bereits 1925 erkannte er, welche Gefahr für Juden von den Nationalsozialisten ausging. Früh beginnt er, ihre Aktivitäten zu dokumentieren und publizistisch gegen sie anzukämpfen. Aus diesem Grund muss er bereits Anfang 1933 flüchten.
Erste Station seines Exils ist Amsterdam, wo er mit dem niederländischen Zionisten David Cohen das Jewish Central Information Office (JCIO) gründet. Dieses informiert über die Judenpolitik der Nazis und bildet quasi die Keimzelle der späteren Wiener Library. Als die Arbeit in Holland 1939 schwieriger wird, zieht Wiener zusammen mit dem JCIO nach London. Während des Zweiten Weltkriegs greifen unter anderem die alliierten Geheimdienste, die BBC sowie zahlreiche Presseagenturen immer wieder auf Wieners Material zurück. In diesem Kontext bürgert sich langsam die Bezeichnung »Wiener Library« ein.
Während Wiener unermüdlich über die fortschreitende Diskriminierung und Verfolgung von Juden aufklärt, erlebt seine Familie diese am eigenen Leib. In der Wiener Holocaust Library zeichnen Ausstellungstafeln mit einer Landkarte, Fotos und Dokumenten ihre Lebens-, aber vor allem ihre Fluchtwege nach. Wieners Frau Margarete und die gemeinsamen drei Töchter waren ihm zwar nach Amsterdam gefolgt, aber während er seit 1940 in New York arbeitet, wird seine Familie 1943 in das Durchgangslager Westerbork und dann nach Bergen-Belsen deportiert.
Dank eines Gefangenenaustauschs kommt sie frei und gelangt mit der Bahn in die Schweiz. Für Margarete ist es jedoch zu spät. Ihr kranker und erschöpfter Körper kann die Anstrengungen der Reise nicht mehr bewältigen; sie stirbt in Kreuzlingen. Ihre Töchter aber schaffen es, im Februar 1945 in Marseille an Bord eines Schiffes zu gelangen, das sie zu ihrem Vater nach New York bringt.
diplomatie Auf einer weiteren Wandtafel ist zu erfahren, was sich im Hintergrund abspielte, um diese Ausreise zu ermöglichen. So hatte die Familie über die Schweizerin Camille Aronowska, eine alte Freundin der Familie, Kontakt zu polnischen Diplomaten in Bern, die wiederum südamerikanische Botschaftsangehörige bestachen, damit sie paraguayische Pässe für Juden ausstellten, um sie letztendlich aus Europa herauszuholen.
Spannende und abenteuerliche Geschichten stecken dahinter. Sehr berührend ist eines der wenigen ausgestellten Artefakte: ein kleines Tagebuch von Tochter Ruth, das sie in Westerbork und Bergen-Belsen geführt hat. In einem Eintrag ist zu lesen, dass sie in Bergen-Belsen Margot und Anne Frank sah, die sie aus der Schule in Amsterdam kannte.
Die zweite Ausstellung zeigt Objekte aus verschiedenen Zeiten der Verfolgung sowie des Widerstands. Auffallend ist ein Brettspiel von 1938 namens »Juden Raus!«. Es erinnert an ein anderes, das »Unser Mut. Juden in Europa 1945–48« heißt und den Kampf der Juden reflektiert, »Wiedergutmachungs«-Anträge bewilligt zu bekommen.
Fotografien Zu den Highlights der Ausstellung gehören Bilder der Fotografin Gerty Simon, die im Berlin der 30er-Jahre Prominente fotografiert hat, unter anderem die Grafikerin Käthe Kollwitz, den Maler Max Liebermann und die Schauspielerin Lotte Lenya. Auch Gerty Simon schaffte es nach London, geriet aber in Vergessenheit.
Die beiden Ausstellungen und das Begleitprogramm machen auf Aspekte aufmerksam, die ansonsten wenig Beachtung finden. Zudem bieten sie gute Einblicke in das britische Exil. Aber näher als London mag vielleicht Berlin sein, wo die Wiener Holocaust Library seit 2008 eine Dependance im Jüdischen Museum hat.
»The Wiener Holocaust Library at 90«. Noch bis zum 20. Oktober