Russland

Nawalnys rechte Hand

Leonid Wolkow gilt als einer der wichtigsten Helfer des Oppositionellen

von Polina Kantor  21.07.2022 11:09 Uhr

Das Judentum verleiht Leonid Wolkow (41) Kraft und Stabilität. Foto: picture alliance/dpa

Leonid Wolkow gilt als einer der wichtigsten Helfer des Oppositionellen

von Polina Kantor  21.07.2022 11:09 Uhr

Seit seiner Rückkehr aus Berlin nach Russland sitzt Alexej Nawalny, der bekannteste russische Oppositionelle, in Haft. Auch von seiner Vergiftung im Sommer 2020 hat er sich nie völlig erholt. Und nach einem Jahr in einem Lager für ganz gewöhnliche Häftlinge wurde er Mitte Juni in die Strafkolonie IK-6 verlegt, die sich im Dorf Melechowo befindet, irgendwo in der Region Wladimir.

Denn im Frühjahr hatte ein Gericht ein weiteres Urteil gegen ihn gefällt: neun Jahre Freiheitsentzug unter verschärften Haftbedingungen. Die Welt erfuhr davon via Instagram. Nawalny hatte darin mitgeteilt, dass er einer von anderen Häftlingen isolierten Strafeinheit zugeteilt wurde, die aus verurteilten Mördern besteht. »Ein Gefängnis im Gefängnis unter völlig irrsinnigen und kaum zu ertragenden Bedingungen.«

Nawalnys Name findet sich mittlerweile auf der Liste von offiziell als Terroristen und Extremisten eingestufter Personen. Auch die Mitarbeiter seiner Stiftung für Korruptionsbekämpfung und weiterer von ihm ins Leben gerufener Strukturen sehen sich in Russland zahlreichen Repressalien ausgesetzt.

Säuberung Trotz dieser widrigen Umstände macht sein Team weiter. Allen voran Leonid Wolkow, seines Zeichens ein ehemaliger Koordinator der Nawalny-Stäbe – und Jude. »Es findet eine totale Säuberung des politischen Feldes in einem absolut beispiellosen Ausmaß statt«, sagte er Ende 2021 dem in Prag ansässigen russischsprachigen Fernsehsender »Current Time«. »Jetzt ist es notwendig, einen Strich unter politische Offline-Aktivitäten in Russland zu setzen.«

Im Juli 2019 floh Wolkow aus Russland. Heute lebt er in Vilnius.

Mehrmals bereits hatte ihn die Polizei in Russland festgenommen, wobei Polizisten ihm einmal sogar auf dem Weg zur Synagoge aufgelauert hatten. Insgesamt sollte Wolkow bereits 120 Tage in polizeilichem Gewahrsam verbringen. Im Februar 2021 schließlich wurde ein Haftbefehl gegen ihn rechtskräftig. Der Vorwurf: die Anstachelung Minderjähriger zur Teilnahme an Protestaktionen. Deshalb fand sogar in der Wohnung seiner Eltern in Jekaterinburg eine Hausdurchsuchung statt.

Doch zu diesem Zeitpunkt befand sich Wolkow glücklicherweise längst außer Landes. Schon im Juli 2019 war er über Belarus nach Litauen geflohen, wo er seither in Vilnius wohnt. In jenem Sommer hatte die russische Opposition Anstrengungen unternommen, bei den Wahlen zu kandidieren, woraufhin sie sich mit einer Vielzahl von Strafermittlungen konfrontiert sah. Und im August 2021 eröffneten die Behörden ein weiteres Strafverfahren gegen Wolkow und seinen Kollegen Iwan Schdanow wegen der Finanzierung angeblich extremistischer Organisationen.

Mathematik Doch was macht den 41-jährigen IT-Experten aus Sicht der Moskauer Führung zu einer Bedrohung? Seine Biografie jedenfalls lässt es nicht vermuten. Als Sohn eines berühmten Mathematikers war Wolkow im Ural aufgewachsen. Die 10. Klasse absolvierte er sogar in Dresden, weil sein Vater dort eine Gastprofessur hatte. Doch Mathematik lag auch ihm näher als das Erlernen anderer Sprachen. Im Alter von 17 Jahren begann er parallel zu seinem Studium eine Karriere bei einem privaten russischen IT-Unternehmen. Dort arbeitete er sich in den zwölf Jahren seiner Tätigkeit bis zum Vorstandsmitglied hoch.

Als er Ende 20 war, begann er, die Politik für sich zu entdecken. So gelang ihm 2009 in Jekaterinburg als unabhängiger Kandidat der Einzug in den Stadtrat. Damals schloss er sich auch der politischen Bewegung Solidarnost des 2015 ermordeten Oppositionspolitikers Boris Nemzow an.

Nach Ablauf seines Mandats zog es ihn nach Moskau, wo Wolkow 2013 die Kandidatur Nawalnys für das Amt des Bürgermeisters als Wahlkampfleiter voranbrachte – mit einem Achtungserfolg: Nawalny konnte beachtliche 27 Prozent der Stimmen verbuchen.

Wolkow selbst sieht seine Zukunft nicht unbedingt in der Politik. Vielmehr kann er sich gut vorstellen, seine politischen Vorstellungen als Geschäftsmann umzusetzen. Tatsächlich agiert er in vielerlei Hinsicht wie ein Manager und überließ oft lieber anderen den Auftritt in der Öffentlichkeit. Sein Augenmerk lag vorrangig auf der Organisation von Abläufen und der Entwicklung von Systemen zur digitalen Demokratieausübung.

Kommunikation Dass er de facto nun als Sprachrohr Nawalnys auftritt, ist dessen Verhaftung geschuldet. Denn gerade die anschließende Kommunikation mit der Anhängerschaft seines Weggenossen ließ ihn stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken.

Mit Mitte 30 wandte er sich der Religion zu. Seine Frau konvertierte zum Judentum.

Auf dem YouTube-Kanal des Nawalny-Teams beantwortet er seither geduldig Fragen. Einer seiner regelmäßigen Streams heißt schlicht und ergreifend »Die beste Sendung über Politik«. Bescheidenheit ist für ihn definitiv ein Fremdwort.

Wolkow gilt als clever und unermüdlich. Obwohl es in Russland einige Politiker mit jüdischem Hintergrund gibt, unterscheidet sich Wolkow von den meisten dadurch, dass er als praktizierender Jude wahrgenommen wird. Dem Online-Magazin »Tablet« erzählte der Kommunika-
tionsexperte, dass er sich erst mit Mitte 30 der Religion zugewandt habe und sie seither als »integriertes moralisch-ethisches System« betrachte.

lernprozess »Für jemanden mit einem typisch sowjetischen Familienhintergrund war es ein langer Lern- und Transformationsprozess«, betont er. Seine Frau beschloss sogar, zum Judentum zu konvertieren. »Durch das Studium haben wir dann begonnen zu verstehen, dass das Praktizieren des Judentums unserer Familie viel Kraft und Stabilität verliehen hat.«

Aus dem Exil heraus nimmt Wolkow nicht allein durch die Weiterführung von Antikorruptionsrecherchen und YouTube-Beiträge auf das politische Geschehen in Russland Einfluss. In diesem Jahr stehen in vielen russischen Regionen Wahlen an, und er möchte der Kreml-Partei »Einiges Russland« gerne so viele Stimmen wie möglich abjagen.

Selbst für die Moskauer Bezirkswahlen will sein Team Empfehlungen zur Stimmabgabe erteilen, obwohl Nawalny diese Ebene immer eine Nummer zu klein erschien. Wolkow aber deklarierte die Unterstützung oppositioneller Kandidaten kurzerhand zu etwas Besonderem, und zwar zum Antikriegs-Statement.

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