Behutsam legt José Domingos mit seinem kleinen Taschenmesser eine Einkerbung am Eingang des alten Steinhauses im nordportugiesischen Trancoso frei. Unter der Spitze des Messers tritt, direkt auf Augenhöhe, ein Kreuz hervor. »Die ganze Gegend hier um die alte Judiaria, das Judenviertel, ist voller Symbole aus der Zeit der Inquisition«, sagt Domingos. Die Konvertiten seien dadurch nach außen hin als neue Christen gebrandmarkt worden. »Doch insgeheim deuteten sie die Symbole um, verstanden im Kreuz eine Mesusa«, erläutert der Historiker und Archäologe, während er mit dem Eifer eines Schatzsuchers ein weiteres Kreuz aus dem Zement herausarbeitet.
gewohnheit José Domingos ist selbst Nachfahre von Anusim, jener unter Zwang zum Christentum Konvertierten. Sein Familienname, der auf Deutsch »Sonntag« bedeutet, weist ebenso darauf hin wie die Gewohnheit, das Kreuz am Eingang unbemerkt zu berühren und die Hand dann zum Mund zu führen. »Alles, was nur annähernd nach Judentum aussah, wurde tunlichst versteckt. Doch pflegte man es heimlich weiter und überlieferte es mündlich von Generation zu Generation.«
Häufig hätten Juden mit der Konversion Namen von Wochentagen oder Baumarten angenommen, sagt Domingos. »So glaubte man, sich leichter vom Stigma des Jüdischen befreien zu können – verhieß die leidige Konversion doch auch die Integration in die christliche Gesellschaft.«
Mitten im Herzen der Judiaria, gleich neben dem Haus, in dem früher offenbar der Rabbiner wohnte, entsteht seit etwa sechs Monaten das Dokumentationszentrum »Isaac Fernando Cardoso«. Der Namensgeber wurde in Trancoso geboren. Er war Arzt und Nachfahre von Zwangskonvertierten. Er veröffentlichte 1679 in Amsterdam die auf Ladino verfasste Auseinandersetzung Los excelencias de los hebreos (Die Vorzüge der Hebräer). Darin geht es um die Tugenden des Jüdischseins – Überlegungen, die Cardoso schließlich auch dazu bewogen, in Venedig zum Judentum zurückzukehren. Ein Exemplar des Werkes soll bei der Eröffnung des Zentrums im Juli der neuen Synagoge gewidmet werden, die direkt daneben entsteht.
Domingos erklärt den Zweck des Zentrums, das seit mehr als 20 Jahren von ihm und der Stadtverwaltung geplant wird: »Im oberen Stockwerk soll im Dokumentationsteil durch eine Dauerausstellung anschaulich gezeigt werden, dass die Juden mit der Inquisition aus Portugal nicht verschwunden sind. Viele Bräuche, wie die Art, das Haus zu kehren, oder auch bestimmte Sprichwörter haben ihren Ursprung in der Zwangskonversion.« Das wolle man den Besuchern nahebringen. Sicherlich haben etliche von ihnen selbst jüdische Vorfahren.
»Wenn die Leute ihre Wurzeln kennenlernen, werden sie vielleicht auch mehr Interesse für die jüdische Kultur aufbringen«, hofft Domingos. »Und einige werden vielleicht auch zurückkehren wollen.«
rückkehr Domingos ist bisher der Einzige in Trancoso, der offen jüdisch lebt. Er konvertierte vor einigen Jahren in Israel, durchlief den formalen Prozess des »Retorno«, der Rückkehr, und hofft nun darauf, dass der Bau des Zentrums und der Synagoge noch andere motivieren wird, ihm zu folgen.
»Es ist nicht immer leicht, diesen Prozess durchzumachen«, erklärt Domingos nachdenklich. »Zwar hat sich die jüdische Identität hier trotz Zwang und ohne rabbinische Unterweisung über Jahrhunderte hinweg erhalten – doch mit starken Abweichungen von dem, was Halacha ist.« Von Generation zu Generation haben die Väter ihren Söhnen auf dem Sterbebett offenbart, dass sie Juden seien. »So erhielt sich eine jüdische Identität, auch bei Menschen, die nach außen hin fromme Christen waren.«
zahlen Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass gut 20 Prozent aller Portugiesen jüdische Wurzeln haben. Doch nur wenige von ihnen sind Domingos Weg ge- gangen und haben einen formalen Rückkehrprozess eingeleitet. Die israelische Organisation Shavei Israel begleitete im Jahr 2007 einige Rückkehrwillige aus Porto nach Jerusalem.
Eliezer Shai Di Martino, Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Lissabon, sagt, in der Hauptstadt würden die Bemühungen in Trancoso mit Interesse verfolgt und diskutiert. »Alles in allem sehen wir das positiv – solange das Ganze nicht den Charakter eines Jahrmarkts annimmt, bei dem jeder, der sich freitags wäscht, meint, Jude zu sein.« Doch schließlich gebe es ja gut dokumentierte Nachweise der Zwangskonversion, so Di Martino.
Domingos hat sich ausgiebig auch mit den Nachweisen an Häuserwänden seines Heimatortes beschäftigt. Für ihn war es keine Hürde, im Zuge seiner Rückkehr auch Hebräisch zu lernen. Wenn er beim Bäcker eintritt, grüßt er manchmal mit »Schalom«. Dennoch hat er auch Zweifel, ob das orthodoxe Judentum der heutigen Zeit für potenzielle Rückkehrer attraktiv sein kann. »Man hat hier in Trancoso zu Hause immer auf Portugiesisch gebetet«, sagt er, »über Jahrhunderte hinweg. Das wird sich mit der neuen orthodoxen Synagoge ändern.«