Bei dem Terroranschlag in der Konzerthalle Crocus City Hall nahe Moskau wurden mehr als 140 Menschen getötet und mehr als 500 verletzt. Die Terrororganisation IS hat den Angriff für sich reklamiert. Ihr afghanischer Ableger IS-K feiert das Massaker als größten »Erfolg« und droht Russland mit weiteren Angriffen. Auch in Europa gilt die Terrorgefahr als sehr hoch.
Amerikanische und europäische Sicherheitskreise wollen Russland vor der Terrorgefahr explizit gewarnt haben. Doch während es im Ausland kaum Zweifel an einem dschihadistischen Hintergrund gibt, bringt der Kreml die aus Tadschikistan stammenden mutmaßlichen Täter mit der Ukraine in Verbindung. Und mehr noch.
Präsident Wladimir Putin kann sich einen Anschlag, mit dem seine Erzfeinde aus Washington und London und deren »Handlanger« aus Kiew nichts zu tun haben sollen, offensichtlich nicht vorstellen. Der Fall »Crocus« wirft zudem dem Kreml unangenehme Fragen auf: zur Sicherheitslage in Russland, zur Migration aus Zentralasien und auch zu islamistischen Tendenzen, die Ende Oktober 2023 zu antisemitischen Gewaltausbrüchen in Dagestan geführt haben.
Für Letztere hatte Putin wiederum Kiew verantwortlich gemacht, die Bedeutung des interethnischen und interreligiösen Friedens angemahnt und Antisemitismus verurteilt. Nachdem der Inlandsgeheimdienst FSB am 7. März einen vereitelten IS-Anschlag auf eine Synagoge in Moskau vermeldete, pries Putin erneut das friedliche Zusammenleben und bezeichnet Muslime und Juden als Brüder.
Wilde Verschwörungstheorien, wohin man blickt
Das widerspricht jedoch den antisemitischen Narrativen, die seit dem Überfall auf die Ukraine im Umlauf sind. Im aktuellen Krieg im Nahen Osten steht Russland fest auf palästinensischer Seite und betreibt anti-israelische Propaganda. Der Anstieg des Antisemitismus im Land, der sich auch in den Reaktionen auf den Crocus-Terror zeigt, ist daher keine Sensation.
Wenige Stunden nach dem Anschlag kursierten im russischen Internet Verschwörungstheorien über ein »jüdisches Opfer« zum Purim-Fest der kommenden Tage. Beim aserbaidschanischen Gründer der Crocus Group, zu der auch die angegriffene Konzerthalle gehört, Araz Ağalarov, wurde sich auf die jüdische Ehefrau und den Sohn eingeschossen. Andere Antisemiten sehen die »jüdische Führung« der Ukraine hinter dem Anschlag.
Während der IS den Angriff auf Konzertbesucher mit der »Unterdrückung von Muslimen« durch den Kreml – etwa in Tschetschenien, Syrien und in der Sahel-Zone – begründet, halten etliche russische Publizisten an der These fest, dass radikale Muslime gar keinen Grund hätten, Russland anzugreifen, das doch die Palästinenser unterstütze und Israels Politik verurteile. Die Tatsache, dass Moskaus Partner Hisbollah und Hamas den Anschlag umgehend verurteilt haben, soll diese These zusätzlich untermauern.
Kritik an Russen in Israel
Die Verschwörungstheorie, Israel und die USA würden hinter dem IS stecken, erlebt in Russland eine Renaissance. So spricht etwa der einflussreiche, ultranationale Philosoph Alexander Dugin von der »Rache der Zionisten« und der »Hand des Mossad«, dessen Werkzeug der IS sei.
Die Führung hält sich noch zurück. Die Pressesprecherin des Außenministeriums, Marija Sacharowa, greift jedoch in Israel ansässige regimekritische Künstler an, die sich mit den israelischen Opfern des 7. Oktober sofort solidarisiert hätten, aber für ihre russischen Landsleute keine Empathie empfinden würden.
Putins Pressesprecher Dmitrij Peskow sieht indes die »Ukraine-Theorie« seines Chefs durch die Person des ukrainischen Präsidenten gefährdet. Wolodymyr Selenskyj, dessen stets hervorgehobene jüdische Herkunft schon die Mär über »ukrainische Nazis« untergräbt, soll nun als Auftragsgeber von IS-Terroristen fungieren? Peskow, der selbst manchmal von russischen Nationalisten als »Sohn einer jüdischen Mutter« antisemitisch beschimpft wird, muss improvisieren und wirkt dabei ratlos: Selenskyj sei ein »eigenartiger Jude«, der stark mit dem nationalistischen Geist sympathisiere. Ihm sei also einiges zuzutrauen.