In der Kiewer Innenstadt hätten sich Rechtsextreme und Nazis unter dem Porträt von Adolf Hitler und der Hakenkreuzflagge zusammengerottet, um in der Ukraine einen braunen Umsturz zu organisieren, lauteten in den vergangenen Wochen und Monaten viele Fernseh- und Presseberichte russischer Medien. In Wirklichkeit kämpften auf dem Maidan, dem zentralen Platz der Unabhängigkeit, verschiedene Gruppen, denen es vor allem um den Sturz des verhassten, mittlerweile Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch und die Beseitigung seines korrupten Systems ging. Unter den Aktivisten sind Studenten, Rentner, Professoren, Politiker, Junge und Alte, Frauen wie Männer.
Swoboda Josef Zissels, Vorsitzender der Vereinigung jüdischer Organisationen und Gemeinden der Ukraine (Vaad) sowie Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses, will nicht bestreiten, dass es Gruppen auf dem Maidan gibt, die in der Vergangenheit auch antisemitisch aufgefallen sind. Er meint damit die Swoboda-Partei von Oleg Tjanibok und auch die Sicherheitsgruppe »Rechter Sektor«. Bis vor zehn Jahren nutzte die Partei das Zeichen der Wolfsangel als Logo. »Die derzeitige Situation ist aber vollkommen anders«, sagt Zissels. In den vergangenen Monaten habe es von Swoboda kein einziges antijüdisches Statement gegeben. Er geht davon aus, dass die Partei sogar in der neuen Regierung vertreten sein wird.
Nach Zissels Meinung wird der Maidan von niemandem kontrolliert. Im gesamten Land gab es – und gibt es immer noch – rund 50 solcher Aktivistenlager. Insgesamt beteiligen sich derzeit rund zwei Millionen Menschen aktiv an der Bewegung.
Kiews Oberrabbiner Yaakov Bleich hält den Maidan nicht einmal für »richtig politisch«. Das sei in erster Linie Protest, erklärt er. Der Platz verwalte sich selbst. »Für jemanden von außen ist das schwer zu verstehen«, sagt Bleich. Die Bewegung sei aus ganz normalen Menschen entstanden, die das Leben unter einem autoritären, korrupten Regime satthaben.
Oberrabbiner Bleich berichtet allerdings auch von einem Vorfall in der ostukrainischen Industriestadt Saporoschje. Dort hatte die Swoboda-Partei vergangene Woche eine Anti-Janukowitsch-Kundgebung in der Nähe einer Synagoge veranstaltet. Die Lage eskalierte, es kam zu Ausschreitungen. Ein Molotow-Cocktail flog ins Fenster der Synagoge. »Wir können nicht sagen, ob der Werfer einer von Swoboda war. Ausschließen können wir es aber auch nicht«, sagt Bleich. Die Lage sei derzeit noch instabil, Synagogen und Gemeindeeinrichtungen würden deshalb stärker bewacht als üblich.
»Solange keine Normalität eingekehrt sei, kann man sich nicht sicher fühlen«, so Bleich. Daran werde sich bis zu den Wahlen Ende Mai bestimmt nichts ändern. Üblicherweise nehme die Zahl antisemitischer Anschläge während des Wahlkampfs sogar noch zu, hat der Rabbiner in der Vergangenheit beobachtet. »Wir werden also auch in den nächsten Wochen vor unseren Synagogen, Schulen und dem Kindergarten die hohen Sicherheitsvorkehrungen aufrechterhalten.«
Die dadurch gestiegenen Kosten übernimmt die Ronald S. Lauder Foundation. Deren Vizepräsident, Rabbiner Joshua Spinner, sagt: »Schon seit den ersten Anzeichen einer veränderten Sicherheitslage haben wir entsprechende Maßnahmen ergriffen und auf die veränderte Situation in Kiew reagiert.« Am Samstag gab dann auch die Jewish Agency bekannt, dass sie der jüdischen Gemeinschaft in der Ukraine verstärkt helfen wolle, ihre Sicherheit zu erhöhen. »Darauf haben wir Wochen lang gewartet«, sagt Oberrabbiner Bleich.
Gewalt Die jüdischen Gemeinden sind froh, dass es nach den gewaltsamen Zusammenstößen in der vergangenen Woche, bei denen allein am Donnerstag 44 Menschen getötet wurden, nicht zu Plünderungen oder gar Lynchjustiz gekommen ist. »Der kommissarische Innenminister Arsen Awakow ist ein erfahrener und entschlossener Mensch, er wird die Lage schon stabilisieren«, hofft Zissels .
Derzeit arbeitet das Parlament an der Bildung einer neuen Regierung. »Das Land braucht schnelle Lösungen«, mahnt Zissels. Allerdings sollten alle Verantwortlichen, trotz des Hochdrucks, unter dem sie arbeiten, Gründlichkeit walten lassen. Sonst könnten schon bald die gleichen Probleme auftauchen, die man dem alten Regime immer vorgeworfen hat. Die bis vor wenigen Tagen regierende Partei Janukowitschs, die Partei der Regionen, müsse sich mäßigen und ihre Rolle als Opposition akzeptieren und konstruktiv ausführen, so Zissels.
Kandidaten Es kommt jetzt darauf an, einen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten zu finden. Für besonders geeignet hält Zissels Arsenij Jazenjuk von der Vaterlandspartei der früheren Regierungschefin Julia Timoschenko. Auch den Großindustriellen Petro Poroschenko könne er sich in diesem Amt vorstellen. Beide hätten die nötige politische Erfahrung und brächten auch genügend wirtschaftliche Kompetenz mit. Für das Präsidentenamt stehen Julia Timoschenko und Vitali Klitschko in den Startlöchern. Zissels hat Sympathien für Klitschko, hält ihn aber für einen noch zu unerfahrenen Politiker.
Für Oberrabbiner Bleich steht fest, dass die Swoboda-Partei mit in der neuen Regierung sitzen wird. Das habe er in einem persönlichen Gespräch mit Arsenij Jazenjuk und Vitali Klitschko erfahren. Allerdings bleibt abzuwarten, ob die Partei Oleg Tjaniboks die hohen Erwartungen erfüllen kann. In der jüdischen Gemeinde herrscht daher eine gewisse Anspannung: »Wir können nicht sicher sein, ob wir ihnen vertrauen können«, so Bleich.
Große Probleme sieht Zissels in der wirtschaftlichen Situation. Das Land steht kurz vor dem Staatsbankrott. »Hier müssen Institutionen wie der Internationale Währungsfonds die Ukraine unterstützen«, hofft Zissels. Eine weitere Gefahr gehe vom Nachbarn Russland aus. Der Kreml blickt mit großem Missfallen, gar mit Verachtung auf die Entwicklungen in Kiew. »Die Ukraine muss jetzt zusammenstehen, wir dürfen uns nicht trennen lassen«, warnt Zissels. Moskau versucht, Gebiete im Süden der Ukraine vom Rest des Landes abzuspalten, die Ultras unter Putins Beratern denken sogar laut über die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation nach. »Das wäre eine Katastrophe«, sagt Zissels.
Keine guten Noten erteilt Zissels der EU. »Die Vertreter der Europäischen Union sind in den vergangenen Monaten keine große Hilfe gewesen.«