Ukraine

Nach dem Abzug

Wenige Tage nach der Befreiung Mitte November: auf dem Freiheitsplatz der südukrainischen Stadt Cherson Foto: IMAGO/ZUMA Wire

Was ist Kollaboration? Was ist das in einem Krieg, in dem Russland gegen ein angebliches Naziregime in der Ukraine kämpft und allem Ukrainischen den Kampf angesagt hat? Was ist das in einem Krieg, in dem Widerstand mit Folter und Mord begegnet wird? Und was bedeutet Kollaboration ganz konkret für Menschen in einer besetzten Stadt?

Cherson war eine solche Stadt. Am 2. März meldete das russische Regime die Einnahme der Hauptstadt der gleichnamigen südukrainischen Provinz. Cherson fiel praktisch kampflos. Pro-russische Netzwerke im ukrainischen Sicherheitsapparat sowie in der Verwaltung hatten den Invasionstruppen den Weg geebnet.

grauzone Doch am 11. November wurde Cherson von der ukrainischen Armee zurückerobert. Die acht Monate dazwischen sind acht Monate Grauzone. Eine, nach der sich genau solche Fragen stellen: Was ist ein Kollaborateur? Sind Verwaltungsmitarbeiter welche? Oder ist zum Beispiel Rabbiner Yossef Yitzchak Wolff einer, weil er russisch-jüdische Soldaten in seiner Synagoge beten ließ?

Rabbiner Wolff fürchtet jedenfalls, sein Verhalten in den acht Monaten zwischen dem 2. März und dem 11. November könnte ihm als Kollaboration ausgelegt werden. Das sagte er der »New York Times«. Wolff ist vor Kurzem nach Berlin geflohen.

Viele Menschen flüchteten aus Cherson, nachdem die russische Armee die Stadt eingenommen hatte.

Auch viele andere Menschen flüchteten aus Cherson, nachdem die russische Armee die Stadt eingenommen hatte. Unter denen, die blieben, gab es Partisanen, zivilen Widerstand, innere Emigration und Kollaboration. Da gab es aber vor allem auch jene, die sich für einen pragmatischen Umgang mit den Russen entschieden. Nicht zuletzt, weil völlig unklar war, ob die ukrainische Armee Cherson jemals zurückerobern würde.

besatzungsmacht Rabbiner Yossef Yitzchak Wolff gehört der chassidischen Bewegung Chabad Lubawitsch an und amtierte in der jüdischen Gemeinde in Cherson. Chabad vertritt den Standpunkt, dass ein Rabbiner, auch wenn es schwierig oder brenzlig wird, seine Gemeinde nicht verlässt. Rabbiner Wolff blieb also und verschloss seine Synagoge nicht vor den jüdischen Soldaten der Besatzungsmacht.

Ein Mitglied der jüdischen Gemeinde in Cherson soll in den vergangenen Wochen wegen Kollaboration mit den russischen Besatzern verurteilt worden sein. Der Mann, ein Lokalpolitiker und Unternehmer, hatte eine Nachbarschaftswache gegen Plünderungen organisiert. Die griff eines Tages einen russischen Piloten auf und übergab ihn der russischen Armee. Laut Wolff habe ein ukrainisches Gericht den Mann verurteilt, weil er »die weitere Beteiligung eines russischen Soldaten an der Aggression gegen die Ukraine organisiert« habe.

Cherson war unter russischer Besatzung eine Folterkammer. Verschleppungen, Folter, Mord standen an der Tagesordnung. In Cherson versuchte Russland, nach stalinistischem Drehbuch die Einverleibung der eroberten Gebiete voranzutreiben: Aktivisten verschwanden, Journalisten wurden getötet, bekennende Ukrainer gefoltert, Fliehende überprüft, um unter ihnen Kämpfer und Gegner auszumachen. Hunderte Menschen verschwanden. Nach wie vor werden immer mehr Folterkammern entdeckt. Hinzu kamen Versorgungsengpässe und eine Informationssperre. Über Monate gab es kein Internet. Nachrichten gab es nur durch den russischen Filter.

GRATWANDERUNG Für die, die in der Stadt blieben, waren die acht Monate russische Besatzung eine tägliche Gratwanderung: Da wurde zum Beispiel der Priester der griechisch-katholischen Kirche entführt, gefoltert und mutmaßlich vergewaltigt. Er hatte einen Gottesdienst für einen gefallenen ukrainischen Soldaten abgehalten. Der Bürgermeister der Stadt wiederum arbeitete weiter, lenkte die Verwaltung. Von ukrainischer Seite wurde ihm Kollaboration vorgeworfen. Dann wurde er von den Russen gefangen genommen.

Und Rabbi Yossef Yitzchak Wolff? Er organisierte Hilfslieferungen. Sein Bruder Benaya, Oberrabbiner von Sewastopol auf der von Russland annektierten Krim, half ihm dabei. Einmal geriet er dabei unter Beschuss russischer Soldaten. Das ist die eine Seite. Die andere ist: Seine Gemeinde in Cherson konnte unter russischer Besatzung eine Nachbarschaftswache aufstellen.

Rabbi Wolff organisierte Hilfslieferungen und geriet einmal sogar unter russischen Beschuss.

Kürzlich sagte Rabbi Wolff der New York Times: »All diese Leute, die weggelaufen sind, verurteilen uns.« Dies seien »grausame Zeiten«.
Allerdings war Yossef Yitzchak Wolff innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in der Ukraine schon vor dem 24. Februar 2022 nicht unumstritten. Manche stießen sich daran, dass sein Bruder als Rabbiner auf der Krim amtiert und sich mit den dortigen Autoritäten arrangiert hat.

KREML Und da sei noch etwas, wie der ehemalige sowjetische Dissident und langjährige Vorsitzende der Vereinigung der jüdischen Organisationen und Gemeinden der Ukraine (VAAD), Josef Zissels, sagt: »Er (Rabbiner Wolff) ist Berel Lazar unterstellt, einem der Oberrabbiner Russlands.«

Lazar gilt als enger Vertrauter Putins. Er ist Mitglied der »Gesellschaftlichen Kammer der Russischen Föderation« (OPRF), in der Repräsentanten verschiedener gesellschaftlicher Gruppen vertreten sind – freilich nur solche, die den Segen des Kreml haben. 2014 kritisierte Lazar scharf ein Schreiben des VAAD, in dem dieser die russische Annexion der Krim verurteilt hatte.

Nach der Abwanderung anderer führender Rabbiner ist Lazar derzeit der oberste Rabbiner Russlands. Den Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar kritisierte er jedoch. Er rief zur Beendigung des Krieges auf und brachte sich selbst als möglichen Vermittler ins Spiel.

Josef Zissels sagt zum Wirbel um Rabbi Wolff: »Es überrascht mich nicht, wenn russische Rabbiner Putin unterstützen. Sie haben das Stockholm-Syndrom.« In der Psychologie versteht man darunter das Phänomen, dass Opfer von Geiselnahmen manchmal zu ihren Entführern ein positives emotionales Verhältnis aufbauen. In einigen Fällen kann dies dazu führen, dass die Opfer schließlich mit den Tätern sympathisieren und mit ihnen zusammenarbeiten.

behörden Ob die ukrainischen Behörden gegen Rabbiner Wolff ermitteln, ist nicht bekannt. Fragt man Anatolii Podolskyi, den Chef des Ukrainischen Zentrums für Holocaust-Studien, ob es in der ukrainischen Haltung gegenüber Wolff eine antisemitische Seite geben könnte, so antwortet er knapp: »Nein, die gibt es nicht.« Ein Urteil über Wolff traut er sich allerdings nicht zu.

Was in Cherson wirklich vorgefallen ist, könnte wohl nicht zuletzt der Rabbiner selbst beantworten. In Berlin wurde der Erhalt einer Anfrage der Jüdischen Allgemeinen an Rabbiner Wolff zwar indirekt bestätigt. Die Anfrage selbst aber blieb unbeantwortet.

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