Dass es in der Literatur eine Auszeichnung für die schlechtesten Sexszenen gibt, hat einen Grund. Zu oft wirken die Beschreibungen unbeholfen, unrealistisch oder unfreiwillig komisch. Da rollt sich das Paar »in einen kichernden Schneeball vollschlanker Kopulation« (Morrissey) oder der Penis wird als »stoßender Kolben« beschrieben (Norman Mailer).
Umso ungewöhnlicher ist es, wenn eine literarische Sexszene tatsächlich gelingt. Und jetzt die gute Nachricht: Melissa Broders neuer Roman »Muttermilch«, der von einer Beziehung zwischen zwei Frauen handelt, ist voll von solchen.
Broder wurde 1979 in Pennsylvania geboren und ist quasi eine frühere Vertreterin der Millennials. Auf ihrem berühmten Twitter-Account »So Sad Today« (eine Million Follower) teilt Broder mehrmals täglich ihre Gemütszustände mit der Welt. Lakonisch schreibt sie über Depressionen oder Einsamkeit – ähnliche Zustände, die auch ihre Figuren beschäftigen.
So auch in ihrem zweiten Roman »Muttermilch«, der in den USA von der Kritik gefeiert wird. Und das zurecht: Er erzählt eine originelle und witzige Geschichte über lesbisches Begehren, Körperwahn, Judentum und Familie. Erschienen ist er im Ullstein Verlag, übersetzt von Karen Gerwig.
Rachel arbeitet in einer Talentfirma in Los Angeles und hat eine Essstörung. Sie ist Jüdin, was aber eigentlich keine große Rolle spielt - bis sie Miriam kennenlernt. Miriam ist das Gegenteil von Rachel: dick, genießerisch und jüdisch-orthodox.
Die beiden freunden sich in jenem Frozen Yogurt-Laden an, den Rachel wegen seiner kalorienarmen Optionen täglich frequentiert. Während der Hunger bisher die Leere in Rachels Leben füllte, weicht er nun nach und nach einer wachsenden Faszination für die maßlose Miriam.
Miriam, die im Yogurt-Laden aushilft, bereitet Rachel ungefragt ausufernde Becher mit unzähligen Toppings und Kalorien zu. Erst widersteht Rachel, wirft das Zeug weg – doch irgendwann gibt sie nach. Mit Entsetzen bemerkt sie, wie sie »von dem Yogurt verzehrt« wird, »alle fünf Sinne in seinen Tropfen und Strudeln badeten«. Der Hunger ist geweckt.
Und nicht nur das: Auch Rachels Verliebtheit steigert sich, was in wunderbar ausufernden Beschreibungen mündet, etwa vom blassen Gesicht der blonden Miriam: »Alles daran war eine eigene bewohnbare Welt. Ihre Haare hatten die Farbe von Vanilleeis oder Papyrusrollen mit Streifen von Nachtlicht. Ihre Augenbrauen hatten die Farbe von Löwen, von faulen Löwen, die in der Sonne dösten oder nachts mit den Pfoten im Laternenlicht Butter aßen. Ihre Augen: Eisberge für Schiffsunglücke. Wimpern: Rauch und Platin.«
Da Miriam orthodox und somit nicht offen für eine homosexuelle Beziehung ist, müsste die Annäherung an dieser Stelle eigentlich stoppen. Doch zwischen den beiden entwickelt sich ein turbulentes Verhältnis. Miriam stillt Rachels jahrelang unterdrückten Hunger auf buchstäbliche und körperliche Weise, dementsprechend beschreibt die Ich-Erzählerin Miriam genauso lust- und liebevoll wie das Essen, das sie endlich zu sich nimmt.
»Die Burritos sahen immer köstlich aus, wie fest in Decken gewickelte warme Babys. Ich wollte einen Burrito nehmen und an meine Wange halten oder ihn mir über die Schulter legen und beruhigen.« Lust und Fürsorge vermischen sich in Rachels Sehnsüchten, sowohl beim Essen als auch in der Liebe. Denn was Rachel eigentlich fehlt, hat sie selbst schon festgestellt: Eine liebende Mutter.
Aufgeladen ist Rachels Erleben mit jüdischer Symbolik. Immer wieder fantasiert sie vom Golem, also jener jüdischen Figur, die als Metapher oft für etwas Erschaffenes steht, das außer Kontrolle gerät. Das geflochtene Zopfbrot Challa lächelt Rachel an und fordert sie zum Tanz auf, die Egg Roll im chinesischen Restaurant scheint Unheil zu verkünden. Das Essen wird Verheißung und Bedrohung zugleich.
Mit Miriam ist es natürlich genauso. Dass es mit ihrer geheimen Affäre so nicht weitergehen kann, wissen die beiden selbst. Doch egal, wie es ausgeht: Der einst so zwanghaften Rachel hat Miriam da bereits die Lust am Essen, am Jüdischsein, im Prinzip am ganzen Leben beigebracht.