Im Restaurant des jüdischen Kulturzentrums in London, dem JW3, sitzt Laura Marks und löffelt eine herbstliche Kürbissuppe. »Nun ist es nicht mehr lange hin bis zum Mitzvah Day am 19. November«, freut sie sich. »Es gibt aber immer etwas, was man noch verbessern könnte.« Denn die Mitzvah-Day-Bewegung geht ganz allein auf ihre Initiative zurück. Nach einem längeren Aufenthalt in den Vereinigten Staaten brachte sie das Konzept dazu über den Atlantik mit nach London.
Im kommenden Jahr wird es das zehnte Mal sein, dass der Tag der guten Tat in Großbritannien gefeiert wird. Er hat sich als eine beeindruckende Erfolgsgeschichte erwiesen und viel Aufmerksamkeit erzeugt. Das beweist unter anderem die lange Liste der prominenten Unterstützer, darunter die beiden Ex-Premiers David Cameron und Tony Blair sowie die amtierende Regierungschefin Theresa May und der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan.
Beliebtheit Allein im vergangenen Jahr gab es 412 verschiedene Mitzvah-Day-Initiativen. Wie viele es dieses Jahr sein werden, ist noch nicht ganz klar. Aber die Zahl dürfte mindestens so hoch sein wie im Vorjahr, glaubt Marks. Denn die Beliebtheit des zwischen Simchat Tora und Chanukka gelegenen Tages wächst unaufhörlich – nicht nur in Großbritannien, sondern weltweit. Inzwischen gibt es den Mitzvah Day in Australien, Brasilien, Namibia, Finnland, Polen oder auch Deutschland.
In Großbritannien, wo alles seinen Anfang nahm, will die Organisation die Mitglieder der jüdischen Gemeinden mit tatkräftiger Unterstützung von drei Festangestellten, einem äußerst aktiven Vorstand sowie zahlreichen begeisterten Freiwilligen zu noch mehr Engagement motivieren. Dabei setzt sie auch auf die Zugkraft ihrer Themen. Unter dem Titel LeDor VaDor – »von Generation zu Generation« – will sie intergenerationelle Projekte anregen. Marks, die professionell im Marketing arbeitet, bezeichnet all diese Anstöße »als Verbreitung von goldenem Feenstaub«.
Das Grundkonzept für den Mitzvah Day hatte Marks einer Synagogengemeinschaft in Hollywood abgeschaut und dann in London erfolgreich weiterentwickelt. 2015 erhielt sie dafür von Königin Elisabeth II. persönlich sogar den »Order of the British Empire«, den Verdienstorden des Landes. Ihr Credo: Gutes zu tun, gehöre in allen Religionsgemeinschaften zur Normalität. Aber sie wollte keine der üblichen Kaffeekränzchen, Spendenaufrufe für die Krebsforschung oder feierlichen Galas mit Tombola. Das gab es alles schon lange. Deshalb sollte etwas Neues her, weshalb am Mitzvah Day das gemeinsame soziale Engagement im Vordergrund steht. Und das schließt Nichtjuden ausdrücklich mit ein.
Auf diese Weise wird nicht nur einmal im Jahr Gutes getan. Vielmehr soll der Mitzvah Day eine Plattform zum Aufbau längerfristiger Kontakte sein, um so womöglich existierende Vorurteile abzubauen. Denn Marks’ Meinung zufolge kann es der manchmal von der Außenwelt getrennt lebenden jüdischen Gemeinschaft nicht schaden, ab und zu einmal über den eigenen Tellerrand zu schauen und sich in der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft zu engagieren. Auf diese Weise zeige man Flagge, was in Zeiten wachsender Intoleranz und zunehmenden Antisemitismus seine positive Wirkung gewiss nicht verfehlt.
Klischees Skeptikern entgegnet Marks gerne, dass dabei nicht die religiös vorgeschriebenen Mizwot als solche im Mittelpunkt stehen, sondern ein daraus abgeleitetes Prinzip. »Ansonsten würde das eher einem Klischee entsprechen, ganz nach dem Motto: Sei bitte so lieb, mach heute eine Mizwa und besuch deine Großmutter!«, meint Marks.
Viele Juden in Großbritannien waren von Anfang an begeistert von der Initiative und machten mit. So wie Michelle Becker, die in Redlett im Norden Londons lebt und dort einer konservativen jüdischen Gemeinde angehört. Bereits vor sechs Jahren begann sie anlässlich des Mitzvah Day, Hilfspakete für Obdachlose zu organisieren. Nach kurzer Pause ist sie nun mit noch mehr Eifer wieder dabei. Diesmal geht es um Geflüchtete. Mit anderen Gemeindemitgliedern strickt sie beispielsweise Kleider. Kinder und Jugendliche ihrer Gemeinde sammeln Spielzeuge und Plüschtiere, die sogar schon in Flüchtlingslagern in Äthiopien auftauchten. Mit von der Partie war ebenfalls die benachbarte Hare-Krishna-Gemeinde.
»Dabei entstanden echte Freundschaften«, freut sich Becker. Die Mitglieder von Hare Krishna sowie Beckers Gemeinde begannen, sich gegenseitig einzuladen. Zwar war der Rabbiner anfangs skeptisch, weil er sich darum Sorgen machte, dass Juden anderen religiösen Vorstellungen zu stark ausgesetzt werden könnten. Aber alle Beteiligten kamen sich durch die Rücksichtnahme auf den anderen näher. So verzichtete man beispielsweise jüdischerseits bei einem gemeinsamen Essen im Hinblick auf die Speisevorschriften von Hare Krishna auf Eier, Fleisch und Fisch. Nun plant Becker auch die Einbeziehung der benachbarten Moscheegemeinde in die nächsten Aktivitäten.
Eigeninitiative Über die Grenzen hinausgehen, das beabsichtigt auch Cathy Ashley, und zwar buchstäblich mit Sammlungen für Flüchtlinge in Calais und Paris. Ashley, Geschäftsführerin der Family Rights Group, einer Organisation, die sich um gefährdete Kinder und deren Familien kümmert, hatte schon mehrfach aus Eigeninitiative Fahrten zum sogenannten Jungle Camp nach Calais durchgeführt. Nachdem dieses von der französischen Regierung abgerissen wurde, sei die Not der betroffenen Menschen noch akuter geworden.
Anlässlich des nahen Mitzvah Day beschloss sie deshalb, unter Schirmherrschaft der Jewish Labour Movement, einen Fahrzeugkonvoi mit Hilfsgütern nach Calais und Paris zu organisieren. »Wir werden dort das Gespendete an das Zentralverteilungslager weitergeben und den Rest des Wochenendes als Freiwillige dort mithelfen, wo wir gebraucht werden«, verrät Ashley. Interesse an einer Unterstützung der Aktion kam bereits aus einer benachbarten muslimischen Gemeinde sowie der örtlichen Sikh-Gemeinde. Sogar die Kirche will sich an dem Hilfskonvoi beteiligen.
Ashleys Einsatz hat auch ganz persönliche Motive, die in ihrer Familiengeschichte zu suchen sind. Ein Teil ihrer Vorfahren war vor den Nationalsozialisten aus Deutschland nach Großbritannien geflohen, und Angehörige einer Schwägerin gehörten zu den Opfern der Pol-Pot-Diktatur in Kambodscha. Für Ashley ist der Wille zum Helfen deshalb auch ein Weg, um die Welt zu verbessern. Und was eignet sich dafür besser als der Mitzvah Day?