Nach mehr als 20 Jahren Diktatur steht Tunesien am Scheideweg. Auch die rund 2.000 Juden im Land schauen mit Hoffnung und Bangen in die Zukunft. Die Jasmin-Revolution hat der Welt in den vergangenen Wochen gezeigt, dass der geballte Wille der Bevölkerung einen hartnäckigen Autokraten in die Knie zwingen kann. So haben die Bürger mit ihren massiven Protesten Präsident Zine el Abidine Ben Ali und dessen Familie nach 23 Jahren despotischer Herrschaft in nur wenigen Tagen aus dem Land gejagt. Die Erwartungen an die bevorstehenden Neuwahlen sind groß, die Unsicherheit hinsichtlich der politischen Zukunft auch. Letzteres trifft insbesondere auf einige in der jüdischen Gemeinde zu, die sich vom Ben-Ali-Regime vor islamistischen Einflüssen und antisemitischen Übergriffen geschützt fühlten.
Das dürfte auch erklären, warum Großrabbiner Haïm Bettan noch vergangenen Oktober den Präsidenten Ben Ali ausdrücklich dazu aufgefordert hat, für die Präsidentschaftswahl 2014 zu kandidieren. Israels Minister für regionale Entwicklung, Sylvan Shalom, schlug vor ein paar Tagen in die gleiche Kerbe. Er gab zu verstehen, dass die internationale Gemeinschaft in Sachen Menschenrechte bei Ben Ali gerne ein Auge zugedrückt habe. Der 1958 in Tunesien geborene Minister erklärte im israelischen Militärradio, dass er nun eine »Rückkehr der dort bislang verbotenen islamistischen Bewegungen« befürchte.
Auswandern Unter diesen Umständen schwanken die Gefühle der jüdischen Gemeinde in Tunesien in diesen Tagen zwischen Optimismus und ängstlicher Anspannung. Manche denken angesichts der instabilen politischen Lage daran, nach Israel oder Frankreich auszuwandern. Doch es sind nur sehr wenige, die sich speziell aufgrund ihrer Religion bedroht fühlen. Juden in Tunesien ziehen eine Auswanderung vielmehr aus denselben Gründen wie ihre mehrheitlich muslimischen Nachbarn in Erwägung: aus Angst vor weiterer Gewalt, politischer Instabilität und den damit verbundenen Alltagsschwierigkeiten.
Der Präsident der jüdischen Gemeinschaft in Tunesien, Roger Bismuth, ist trotz des andauernden Ausnahmezustands zuversichtlich, dass sich die Lage sehr bald stabilisiert haben wird. »Ben Ali ist mit seiner Familie geflohen und hat uns seine Milizen hier gelassen, die alles verwüsten und zerstören, was ihnen in die Quere kommt«, sagte er der Jüdischen Allgemeinen am Montag. »Wir werden eine Menge Wiederaufbauarbeit leisten müssen.« Die Sicherheitslage verbessere sich aber mit jedem Tag.
Die Armee müsse nur die Milizen festnehmen, dann sei auch das Chaos zu Ende, so Bismuth. Seiner Ansicht nach sei die jüdische Gemeinde durch den politischen Wechsel keineswegs gefährdet. »Wir Juden sind Tunesier wie alle anderen auch, und diese Revolution hat das gesamte Volk befreit.« Es sei in erster Linie eine Jugendbewegung. »Sie setzt sich aus den verschiedensten Bevölkerungsgruppen zusammen, darunter eben auch der jüdischen«, so Bismuth.
verwurzelt Die jüdische Gemeinschaft ist in der Tat ein fester Bestandteil der tunesischen Gesellschaft. Die El-Ghriba-Synagoge auf der Insel Djerba ist mit ihren rund tausend Jahren eine der ältesten der Welt und zeugt von der tiefen Verwurzelung der Juden in dem als tolerant geltenden arabischen Land. Das friedliche Zusammenleben wurde selbst durch den blutigen Anschlag auf die Synagoge im Jahr 2002 kaum beeinträchtigt.
Man ist solidarisch, teilt dieselben Sorgen mit nichtjüdischen Freunden und Nachbarn. Als der Selbstmord eines verzweifelten Gemüseverkäufers das Fass der leiderprobten Bevölkerung vor einigen Wochen schließlich zum Überlaufen brachte, protestierten Juden und Muslime Seite an Seite gegen das Regime, das man für die steigende soziale Not verantwortlich machte.
Georges Tibi vom Vorstand der jüdischen Gemeinde glaubt, dass dank der gelungenen Revolution »ein Wind der Freiheit durch das Land weht, der jedem das Recht verleiht, seine Meinung frei zu äußern«. Tibi fügt allerdings einschränkend hinzu: »Natürlich gibt es in der Gemeinde auch einige, die trotzdem Angst haben«. Das sei individuell unterschiedlich. »Aber ich persönlich glaube überhaupt nicht an irgendeine Bedrohung.«
Wer also denkt, Tunesien brauche einen Diktator wie Ben Ali, um die jüdischen Bürger vor antisemitischen Übergriffen zu schützen, der irrt. Die Forderungen der Demonstranten haben gezeigt, dass sich die Menschen in Tunesien Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit wünschen.
Was die dazu bestehende Mehrheitsmeinung innerhalb der jüdischen Gemeinde angeht, weist Tibi darauf hin, dass eine derartige Bestandsaufnahme aufgrund der aktuellen Sicherheitslage derzeit nicht möglich sei. »Es ist schwer, dies zu beurteilen, da die Bewegungsfreiheit momentan sehr eingeschränkt ist«, erläutert er. »Man ist ans Haus gefesselt und weiß nicht genau, wie die Situation in den anderen Stadtvierteln oder Vorstädten aussieht.«
Sowohl die jüdische als auch nichtjüdische Bevölkerung wartet nun voller Unruhe und Spannung auf den weiteren Verlauf der Ereignisse. Doch eines scheint bereits jetzt für alle klar zu sein: Einen Weg zurück gibt es nicht mehr.