Die Nachrichtenlage ist so unbeständig wie das Leben selbst. Gerade noch standen die Entwicklungen an der russisch-ukrainischen Front im Mittelpunkt des Interesses. Doch der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und der daraus resultierende Krieg in Gaza haben den europäischen Krieg fast aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verdrängt. Der Krieg, der am 24. Februar 2022 das Gesicht des Kontinents veränderte.
Dieses Medienverhalten ist bekannt, aber nicht minder gefährlich. Denn genau das ist es, was Russlands Präsident Wladimir Putin erreichen will – die Aufmerksamkeit von der Region ablenken, die er als Einflussgebiet des Kreml betrachtet. Unterdessen ist der Krieg nicht vorbei. Die Ukrainer, einschließlich der ukrainischen Juden, sterben auf dem Schlachtfeld und leiden an der Heimatfront. »Eine Nacht ohne Beschuss – danke dafür«, schreibt der stellvertretende Direktor des jüdischen Zentrums Migdal in Odessa. »Warum sehe ich, wie die Kinder morgens von der Schule in den Keller gebracht werden? Warum gehe ich in Jeans statt im Pyjama ins Bett? Ich träume von einer Zeit, in der ich andere Fragen haben werde.«
Außerordentliche Mobilisierung und außergewöhnliche Solidarität
Jeder erinnert sich an die außerordentliche Mobilisierung, die außergewöhnliche Solidarität, ja die Euphorie und die Zuversicht auf einen baldigen Sieg, die die ukrainische Gesellschaft in den ersten Monaten nach der russischen Invasion geprägt haben. Vor den Rekrutierungsbüros der Streitkräfte – auch im Osten des Landes, wo die Mehrheit der Bevölkerung Russisch spricht und viele Verwandte in der Russischen Föderation haben – standen riesige Menschenmengen Schlange. So war es denn auch in Israel, wo die Zahl der Freiwilligen an den Mobilisierungspunkten nach dem 7. Oktober die 150 Prozent überstieg.
Doch anders als in Gaza dauert der Krieg in der Ukraine bereits zwei Jahre. Zehntausende von Opfern und das Leid der Zivilbevölkerung, von der Zerstörung von Häusern und Eigentum bis zu den täglichen Stromausfällen, haben den emotionalen Höhenflug der ersten Kriegstage zurück auf den Boden gebracht. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die Ukrainer gegen eine der stärksten Armeen der Welt kämpfen, überlegen an Personal, Flugzeugen, Panzern, Schiffen und Langstreckenraketen.
Müdigkeit ist ein schrecklicher, aber unvermeidlicher Faktor in jeder Konfrontation. Die Tatsache, dass die Ukraine dieses zermürbende Gemetzel bis heute überlebt hat und nicht vorhat aufzugeben, ist schon ein Wunder. Putin hat den wichtigsten Faktor falsch eingeschätzt: Die Ukrainer haben sich nicht nur als Bevölkerung einer der ehemaligen Sowjetrepubliken erwiesen, sondern auch als ein Volk, das bereit ist, für sein Land zu sterben und dafür zu töten.
Einige kämpfen auf dem Schlachtfeld, andere melden sich freiwillig
Die ukrainischen Juden teilen die Nöte ihres Landes. Einige kämpfen auf dem Schlachtfeld, andere melden sich freiwillig, Zehntausende sind zu Flüchtlingen geworden, wie Millionen nichtjüdischer Ukrainer auch. Und einige kehren aus Europa und Israel in die Ukraine zurück, darunter auch einige Teilnehmer des Projekts Exodus-2022 (»Zeugnisse jüdischer Flüchtlinge aus dem russisch-ukrainischen Krieg«).
Einer von ihnen ist Boris Sabarko – Autor von einem Dutzend Bücher, Träger des ukrainischen Verdienstordens und des Bundesverdienstkreuzes, Vorsitzender der Allukrainischen Vereinigung der Juden und ehemaliger Ghetto- und KZ-Häftling. Als Kind verbrachte Sabarko drei Jahre im Ghetto Scharhorod. Der 88-jährige Historiker, der zu Beginn des Krieges nach Stuttgart evakuiert wurde, ist vor Kurzem nach Kyiv zurückgekehrt, wo er eine Textsammlung von Erinnerungen ukrainisch-jüdischer Holocaust-Überlebender fertigstellt.
Der Angriff der Hamas auf Israel hat den europäischen Krieg aus dem Blickfeld verdrängt.
Es ist allgemein bekannt, dass die »Panikmache« des Kreml über die Verfolgung der russischsprachigen Bevölkerung, angeblich grassierenden Neonazismus und Antisemitismus vor zwei Jahren als Vorwand für die russische Aggression diente. Tatsächlich ist das Ausmaß des Antisemitismus in der Ukraine sowohl damals als auch heute – inmitten des Krieges – sehr gering. Nach Angaben des Leiters der Nationalen Gruppe zur Überwachung der Minderheitenrechte, Vyacheslav Likhachev, wurden im Jahr 2023 nur drei Fälle von antisemitischem Vandalismus und kein einziges Gewaltverbrechen gegen Juden im Land registriert.
Im Vergleich dazu wurden laut Bundeskriminalamt seit dem Hamas-Terroranschlag auf Israel am 7. Oktober 2023 in Deutschland 2249 antisemitische Straftaten begangen. In Europa im Allgemeinen und in Deutschland im Besonderen gab es in den vier Monaten des Gaza-Krieges zahlreiche Anti-Israel-Proteste, an denen Tausende Menschen teilnahmen.
Keine einzige propalästinensische Kundgebung in der Ukraine
In der Ukraine gab es bisher keine einzige propalästinensische Kundgebung. Gleichzeitig unterstützen sowohl die Regierung als auch die Bevölkerung das Vorgehen Israels. 69 Prozent der Ukrainer sympathisieren mit Israel und nur ein Prozent mit den Palästinensern, ergab eine Umfrage des Kyiv International Institute of Sociology. Man könnte sagen, dass die moderne Ukraine derzeit wahrscheinlich das israelfreundlichste Land der Welt ist.
Ein weiterer Faktor ist die Herkunft von Präsident und Oberbefehlshaber Wolodymyr Selenskyj. Man hätte versucht sein können, einen ethnischen Juden für das Ausbleiben sichtbarer Erfolge an der Front mitverantwortlich zu machen. Aber nein, der Antisemitismus hat nicht zugenommen.
Das Vertrauen in den Präsidenten ist zwar gesunken, liegt aber immer noch zwischen 62 und 72 Prozent und damit höher als bei jedem anderen Staatsoberhaupt in der Geschichte der unabhängigen Ukraine. Und ja, Selenskyjs Kritiker in den sozialen Medien sind nicht zimperlich in ihren Äußerungen, aber antisemitische Konnotationen sind in ihrer Rhetorik bisher kaum zu finden.
Das, was den Ausgang dieses Krieges bestimmen wird, ist die Widerstandskraft der Ukraine – und anderer Länder. Ein Krieg, den einige Europäer als fremd betrachten, weil sie sich nicht in die Kämpfe ihrer slawischen Nachbarn einmischen wollen. Nun, selbst Chamberlain schrieb 1938, wie »schrecklich der Gedanke erscheint, dass wir hier Schützengräben ausheben und Gasmasken aufsetzen müssen, nur weil es in einem fernen Land einen Streit zwischen Menschen gibt, von denen wir nichts wissen«.
Ein Kontinent in Flammen
Die Tschechoslowakei war nur das erste Opfer dieser Politik. Bald stand der ganze Kontinent in Flammen, und vom Atlantik bis zum Kaukasus mussten Schützengräben ausgehoben werden. Glücklicherweise hat sich Europa in 85 Jahren verändert, und die Unterstützung der zivilisierten Welt für die Ukraine ist der Beweis dafür.
Außerdem ist es schwer möglich, Putin als einen Mann zu bezeichnen, über den man nichts weiß – immerhin ist er seit fast einem Vierteljahrhundert an der Macht. In dieser Zeit hat er sich von einem Präsidenten, der Russland als Teil der westeuropäischen Kultur bezeichnete, zu einem Verbündeten des Iran und Nordkoreas und zum Herrscher eines Landes entwickelt, in dem öffentliche Kritik an den Behörden mit 25 Jahren Gefängnis bestraft werden kann und die LGBT-Bewegung offiziell als extremistisch gilt.
Der Einmarsch in die Ukraine ist nur eine Episode in der globalen Konfrontation mit dem Westen, ein Test seiner Stärke. Dieser Konflikt wird sich nicht auf Probleme in einem »fernen Land« beschränken.
Das Gleiche gilt für die jüdische Gemeinschaft der Ukraine, die durch die russische Aggression einen schweren Schlag erlitten hat. Schließlich konzentriert sich die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung im Osten und Süden des Landes, also in den am stärksten betroffenen Regionen. Diese Menschen brauchen nicht weniger Unterstützung und Aufmerksamkeit als noch vor sechs Monaten. Wenn wir uns also an den 7. Oktober erinnern, sollten wir den 24. Februar nicht vergessen.