Großbritannien

Mozart aus Surrey

Am Küchentisch sitzt ein heiteres Mädchen mit langem Haar und geblümtem Kleid. Riesige Fenster öffnen den Blick auf einen großen Garten und die weite Landschaft der südostenglischen Downs. »Dieser Garten ist fast wie Transsilvanien«, erzählt die Neunjährige und verrät ihrem Gast: »Dort leben auch Antonine und Shell.« Die beiden gehören zu ihrer Fantasiewelt. Sie seien es, die ihr die Melodien weitergeben, sagt sie.

Neben einem der großen Küchenfenster steht ein altes Teleskop, bereit zur Suche nach Sternen. Viele glauben, das Mädchen sei selbst ein Star. Die in Dorking in der Grafschaft Surrey, 30 Kilometer südwestlich von London, lebende Alma Deutscher ist trotz ihres jungen Alters bereits Musikerin und Komponistin. Ihr Repertoire umfasst mehr als 20 eigene Werke.

Oper Schon als Sechsjährige galt sie als Wunderkind, verfasste eigene Kompositionen und spielte einfühlsame Stücke auf dem Klavier und der Geige. Mit sieben schrieb sie ihre erste Oper, »Sweeper of Dreams« (Der Traumfeger). Das Werk ist in einer hebräischen Inszenierung auf YouTube zu sehen – Alma spricht neben Englisch auch Hebräisch. Vergangenes Jahr erschien das erste Album ihrer Kompositionen: The Music of Alma Deutscher. Ihr Tanz der Meerjungfrauen und ihr Violinkonzert in g-Moll sollen im Frühjahr in Spanien uraufgeführt werden, und im Juni wird sie das Israel Philharmonic Orchestra spielen. Auch in Uruguay wird das Mädchen nächstes Jahr erwartet. »Bisher waren wir eher vorsichtig und zurückhaltend mit all den öffentlichen Nachfragen«, offenbart Almas Vater. Sie selbst sehe aber vieles, im Gegensatz zu ihm, mit einer »natürlichen Zuversicht«.

Guy Deutscher ist ein bekannter Linguist. Er wurde in Israel geboren, lebte aber auch einige Jahre in Berlin. Er verrät, dass es das Spiel mit Almas Fantasie war, das unter anderem auf etwas Außergewöhnliches hinwies. »Sie war eigentlich immer ein relativ zufriedenes Kind. Als wir sie – sie war gerade einmal drei oder vier Jahre alt – mit ihrer Fantasiewelt konfrontierten, kam es immer wieder zu unkontrollierten Wutausbrüchen«, berichtet er. Eine Tante, die Psychologin war, habe gemeint, dies zeige, dass die Fantasiewelt für Alma sehr wichtig sei. So ließ man dem Kind seine Welt.

transsilvanien
Alma selbst schildert es so: »Transsilvanien hilft mir, mich an Melodien zu erinnern. Einmal vergaß ich eine Melodie. Aber als ich mich in meine Fantasiewelt versetzte, hörte ich, wie einer meiner Komponisten sie spielte.« Für ihre Eltern hat Alma inzwischen auch ein Buch über diese magische Welt voller wundersamer Tiere und Elfen geschrieben. Und sie malt Bilder davon.

Am Anfang war den Eltern manchmal ein wenig seltsam zumute. »Als Alma noch nicht sprach, konnte sie schon Kinderlieder vollkommen tongenau wiedergeben«, erinnert sich ihr Vater. Es hätte in der Familie immer viel Musik gegeben, mit ihm selbst als Amateurflötisten und seiner Frau am Klavier oder an der Orgel. »Vor allem vor Almas Geburt verbrachte meine Frau Janie viel Zeit mit Musik und ruhte sich aus.« Inzwischen kann auch die sechsjährige Schwester Helen Alma unterstützen und hat ebenfalls schon eigene Stücke komponiert.

Enthusiasmus Alma wirkt sehr lebendig, sie spielt gern, lacht viel und ist begeistert von allem, was sie tut. Ihre Antworten sind präzise, enthusiastisch und doch kindlich und verspielt, ihre eigenen musikalischen Werke eine Reflexion dieser Ausdrücke. Ihre Hände wirken zierlich und bringen doch jene wundervolle Musik hervor. Und sie sind durchaus zum Klettern oder Radschlagen geeignet. Manchmal geht sie in den Garten und macht einen Handstand. »Komm, wir laufen zu meinem Baumhaus, dort träume ich oft von Transsilvanien«, ruft sie ihrem Gast zu. Auch die sechsjährige Schwester rennt mit zu einem uralten dicken Baum. Eine nach der anderen klettern sie die Strickleiter hinauf und verschwinden im Baumhaus.

In den USA machte vor drei Jahren eine Frau, die sich Tiger Mom nennt, wegen ihres strengen Erziehungsstils von sich reden. Was hält Alma von Kindern, die zum Klavierüben gezwungen werden und ihr Zimmer erst dann verlassen dürfen, wenn das Stück »sitzt«? »Die können es spielen, weil sie müssen, aber es fehlt jedes Gefühl«, sagt Alma. »Ich spiele Stücke, die mir gefallen, und am allermeisten mag ich das Improvisieren – einfach spielen, was mir einfällt.« Außerdem meint Alma, dass Kinder die richtigen Komponisten zur Inspiration brauchen: »wundervolle und einfache Melodien« wie die von Schubert oder Mozart. Die bei vielen Erwachsenen so beliebten Komponisten Brahms und Bach sind in ihren Augen eher »untauglich für Kinder«.

Eltern Statt ihre Töchter herkömmlichen Strukturen anzupassen, haben Almas Eltern ihr eigenes Leben vollkommen auf die Bedürfnisse der Kinder umgestellt. Das geht so weit, dass Almas Anwesenheit in gewisser Weise für den Kauf des Familienhauses verantwortlich war. »Wir mussten sie bei der Wohnungssuche mitnehmen, und als sie nach vielen Besichtigungen dieses Haus mit dem verwunschenen Garten sah, wünschte sie sich, sie könnte in einem solchen Haus leben«, kommentiert Guy Deutscher die Suche nach einer angemessenen Bleibe.

Er gibt auch zu, er könne Alma und ihrer Schwester zuliebe inzwischen nur noch mit begrenzter Kapazität als Linguist arbeiten – was aber in Ordnung sei, »denn das ist ja nicht für ewig«. Auch Ehefrau Janie hat nach Almas Geburt ihre Karriere als Literaturwissenschaftlerin vorerst beendet.

Almas Erziehung ist maßgeschneidert, das Mädchen wird zu Hause unterrichtet durch sogenanntes Homeschooling. Anders als in Deutschland ist das in England gesetzlich erlaubt, solange die Erziehungsberechtigten den Behörden einen Lehrplan vorlegen und Lernschritte nachweisen können – ein Recht, das übrigens auf Forderungen aus der jüdisch-orthodoxen Welt zurückgeht.

So hat Alma fast jeden Tag privaten Klavier- und Geigenunterricht. In der Zwischenzeit komponiert sie. Aber sie besucht auch Ballett- und Sportkurse und unternimmt Ausflüge mit anderen Kindern, die von ihren Eltern zu Hause beschult werden. Hin und wieder fährt sie in spezielle Ferienlager für musikalisch begabte Kinder. Konzerte und die dafür notwendigen Vorbereitungen gehören wie selbstverständlich zu ihrem Lehrplan. Was das Lernen betrifft, gesteht Alma allerdings, dass sie eines der Fächer nicht sehr mag: Mathematik.

werdegang Alma weiß, dass sie ein ganz besonderes Leben führt. Sie hofft, dass auch andere davon etwas lernen. Ihr Vater macht über ihren Werdegang Notizen. An ein Buch darüber hat er noch nicht gedacht, möchte es aber nicht ausschließen: »Es kam alles überraschend«, sagt er. »Ich habe mich oft gefragt, wie die großen Komponisten gelebt haben und ihre Stücke schrieben, und nun erlebe ich es in meinem eigenen Haus.«

Gibt es etwas außer Mathematik, was Alma an ihrem Leben auszusetzen hat? Sie überlegt. Schließlich hilft ihr der Vater auf die Sprünge: »Warum erzählst du nicht vom Mittagsschlaf vor deinen Konzerten?« Da fällt es auch Alma ein: »Ja, das mag ich überhaupt nicht: Wenn ich abends Konzerte gebe, muss ich am Nachmittag versuchen zu schlafen. Das gelingt mir aber oft nicht.« So manche Beobachter sehen in Alma Deutscher einen neuen Mozart. Doch das Mädchen widerspricht: »Nein, ich bin viel lieber ich selbst!«

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